: Brauchen Sie eine Puffmutter?
■ Bremer Statisten stellten sich für „Liebe und Anarchie“ bei Andras Fricsay vor
Am Montag abend schlug in Bremen die Stunde der schlummernden Talente. Der Mann dieser Stunde und möglicherweise Entdecker: Andras Fricsay, neuer Bremer Schauspielchef. Eine kleine Notiz in der Zeitung ließ für viele Wünschende noch alles offen: Der Regisseur von Lina Wertmüllers Theaterstück „Liebe und Anarchie“, eben Andras Fricsay, suche als Komparsen „couragierte Herren“, die „sich in einem römischen Etablissement nicht nur umsehen möchten“. Sondern??? Als Dame solle ein Instrument nicht gespielt werden können, aber echt vorgetäuscht werden müssen. Ob Damen dann auch couragiert seien, wenn sie wirklich eins spielen können, blieb offen.
Etwa 50 Damen und Herren im Vorhof zum Theaterhimmel verblassen, als der aufwendig gestaltete Regisseur - ganz Macher - vom anderen Hofende auf sie zukommt. Jetzt scheinen doch manchen ihre Miniröcke etwas kurz, das Lümmeln der Herren wird noch steifer; und vielleicht schlummert ja das Talent doch so
tief, daß es lieber nicht geweckt weden möchte.
Was das wohl für ein Blick ist, mit dem man Entdeckungen macht? Andras Fricsay behält die ganze Zeit die halbgetönte Brille Marke „intellektueller Pilot“ auf und verdunkelt somit Willensbildung. Lässig mächtig, ganz in Schwarz und Gelbgold, lehnt er sich an eine Strebe und ist eben kein Bürger, sondern dessen Schreck, da muß man Extravaganzen erwarten dürfen.
Und zack geht's aber los hier, und zwar Mädels vor. Wer hat schon getanzt? Ahaaha, Turnierjazzausdrucksambasalsabauch. Ballett? Also du'du'du'du, (Pause, tief und still)'duuu'du, wieviel war das jetzt. Eine kindliche Blonde mit dramatisch bloßen Schultern findet enttäuscht, alles sei Zufall, speziell wenn's schnell geht. Also die Männer. Couragiert und mit dem Instrument auf du und du. Ich versuche, Gesichter auf Abgewiesensein hin auszumachen, gerate aber an eine echte Schauspielerin, die sich auf die Frage, ob sie enttäuscht sei, angeekelt abwendet
und dieses Geschehnis als witzige Episode weitersagt. Vom Regisseur werde ich als eingeschmuggelt eingestuft und darf deshalb mit zu den Talentproben.
Die angehenden Mitwirkenden erfahren nun von der unüblichen Intensität ihres Einsatzes. Voraussetzung sei Geduschthaben und knoblauchfreies Essen, da man sich beim Schauspielen anfasse. Die meisten seien nun bald Freier in einem Puff und zugleich Bullen und die Damen bald ein Damenorchester. Nein, nicht angedeutet, das wird eine deftige Gesangsorgie, die Herr Fricsay nicht als Humta-Humta inszeniert wissen möchte.
Ich begleite die erste Aufzug-fuhre in den riesigen Probenraum im 3. Stock. Andras Fricsay warnt vor Geschmacklosigkeiten in der Inszenierung und gibt die erste Aufgabe vor: Die Herren fordern die Mädchen auf und alle tanzen. Das klappt doch schon prima. Die nächsten Aufgaben sind „so tun, als könnte ich ein Instrument spielen“ für die Mädchen, „Bruder-Jakob-Singen“ für die Herren. Einer kann nicht
singen, da waren's nur noch sieben. Jetzt den Mädchen unsittliche Anträge machen. Der schwarze Mann in der Ecke nimmt seine Brille ab und „sieht da schon einiges“. Richtung Ausgang treffe ich die zweite Fuhre auf ihrem Weg nach oben, im Eingang erwarten mich die letzten. Drei Frauen auf der Bank sind schon etwas aufgelöst und auskunftsfreudig. Eigentlich ist sie Fingernagelmodellistin, sagt die eine, aber eigentlich schreibe sie halbtags Lyrik, und dann mache sie noch Ausdrucks-und Jazztanz, aber eben immer zu Hause. Jetzt möchte sie dabei endlich mal beobachtet werden. Claudia Kohlhas
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