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Archiv-Artikel

Boy Trouble und Familienstress

ERINNERUNGSARBEIT Was einst an pubertärem Hoffen und Bangen ins Tagebuch geschrieben wurde, kommt beim Diary Slam an die gar nicht mehr peinlich berührte Öffentlichkeit. Ein Probelauf im Heimathafen Neukölln

VON HENGAME YAGHOOBIFARAH

Wer erinnert sich noch an den pubertären Weltschmerz, den man unter emotionalen Extrembedingungen ins Tagebuch geschrieben hat? Damals war man sich sicher, dass die Einträge nie ans Tageslicht gelangen würden. Damit soll jetzt Schluss sein. Beim Diary Slam will man die alten Aufschriebe aus dem Dunklen der Schubladen herausholen. Initiiert haben den Slam Ella Carina Werner und Nadine Wedel. In Hamburg ist er mittlerweile sehr beliebt.

Ähnlich wie beim Poetry Slam kann dabei jede und jeder literarische Ergüsse vortragen. Nur dass es nicht um Lyrik geht, sondern um selbst geschriebene Tagebucheinträge aus der Pubertät – Prä- und Post- eingeschlossen. Zahlreiche Hemmschwellen sind so zu überbrücken, wenn von der Unerreichbarkeit des Schwarms, von kleptomanischen Aktionen im Kosmetikladen oder dem sich ständig verändernden Körper erzählt wird.

Im gerade erschienenen Band „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen“ hat man ein erstes Best-of des Diary Slams vorgelegt. Am Mittwoch wurde es von Werner und Wedel in Zusammenarbeit mit dem Missy Magazine im Heimathafen Neukölln vorgestellt. Acht der Autorinnen, darunter auch die Organisatorinnen, lasen die eindrücklichsten Passagen aus ihren Tagebüchern vor.

Der Schwarm von damals

Lang war an dem Abend die Schlange vor der Kasse, und wegen des hohen Andrangs mussten zuerst noch zusätzliche Sitzplätze im Heimathafen geschaffen werden.

Als Erste schlug Diary-Slam-Macherin Nadine Wedel ihr altes Tagebuch auf. Sie las von Christoph, für den sie mit 16 schwärmte und den es bei ihren täglichen Touren durch ihr Heimatkaff Donaueschingen zu treffen galt. Schon zwei Wochen nach seiner ersten Erwähnung stellte sie fest, dass er sie nur in Abwesenheit seiner Eltern sehen möchte. Daraus zog sie einen klaren Schluss: „Da wusste ich, dass er mich doch nur für ein Mal durchficken wollte. Schade, doch ich bleib an der Sache dran.“

Was auch das Publikum tat. Dranbleiben. Vor allem durch das ständige Lachen beim Zuhören zeigte sich eine hohe Identifikation mit dem Vorgelesenen. Vielleicht ist es eine Mischung aus Empathie und Fremdscham, die diese Passagen so amüsant machte. Um 1970 sind die meisten der Vortragenden geboren, in einem ähnlichen Alter ist ein Großteil des Publikums. Doch auch viel später Geborene konnten sich in den alten Tagebüchern wiederfinden.

Nüchtern und ehrlich ging es weiter. Feministische Gedankengänge, poetisch zu Papier gebracht, führten zu neuen Fragestellungen. „Soll ich mein Emanzentum aufgrund eines Vertreters männlichen Geschlechts aufgeben? Eine schwere Entscheidung, deshalb sollte ich in mich gehen und an den Wurzeln meines Verlangens schnuppern. Vielleicht entwickelt sich dieser Fall zu einer wahren Beziehung, die auf Liebe und Treue aufbaut und uns Liebenden die Wärme der Welt schenkt. Doch eigentlich will ich nur poppen.“

Boy Trouble zog sich natürlich wie ein roter Faden durch den Abend, ohne bei dem Thema stehen zu bleiben. „Explicit Content“, wie Stefanie Lohaus aus der Missy-Redaktion vor ihrem Vortrag warnte, entsteht auch im Zusammenhang mit der Familie. Ella Carina Werner beschloss die Runde mit einer Anekdote aus der hauseigenen Sauna mit den Eltern und drei Geschwistern. Das selbstbewusste Selbstbild verlor in so einer Situation an Wirkung, wobei es sowieso mit einer gewissen Labilität verbunden war: „Ich sehe wohl verdammt gut aus, meine ich. Richtig sexy. Werde wohl mal eine gute Figur kriegen, aber die habe ich jetzt auch schon. Schreibe ich das nur, um mir Mut zu machen? Bin ich in Wirklichkeit normal oder gar hässlich?“

Ich habe so ein Gefühl

Derlei Zweifel sollen nun auch in Berlin bei weiteren Diary Slams wieder ausgegraben werden. Da das Format von den Einsendungen ehemaliger Tagebuchschreibenden lebt, werden momentan noch Texte gesucht, die auch anonym eingereicht werden können. Große Scheu braucht es dabei nicht, die Konfrontation mit der fremden Pubertät erinnert doch auch an die eigene. Mit ihrem Tagebucheintrag vom 18. Oktober 1993 spricht die Missy-Redakteurin Nadine Finsterbusch wohl für viele Gleichaltrige: „Ich habe viel über Pubertierende gelesen. Anscheinend sind das Krämpfe, die Pubertierende haben. Man sagt, die haben es sehr schwer in der Zeit der Entwicklung. ICH HABE ES SCHWER! Ob ich echt mal sterbe? Ich mit 14 oder so? Ich hab so ein Gefühl.“

■ Ella Carina Werner, Nadine Wedel: „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen“ (Scherz Verlag) Info: www.diaryslam.de