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Blüms Reform

Blüms Reform

Der Unterschied war beeindruckend. Auf dem Deutschen Ärztetag in der Alten Oper Beifall für den Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, vereinzelte Unmutäus -serungen. Zwei Stunden später im großen Saal des Volksbildungsheims Menschen in Rollstühlen, Angehörige von Epilepsie- und Gehörlosen-Selbsthilfegruppen, chronisch Kranke, psychiatrisch Kranke.

Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte hatte sie zusammen mit dem Seniorenschutzbund „Graue Panther“ und dem Gesundheitsladen Frankfurt zur Veranstaltung „Blüms Reform gegen Kranke und Behinderte“ eingeladen. Hier ging es nicht um mehr oder weniger Stichproben bei der Berechnung von Arzthonoraren, um mehr oder weniger bürokratischen Aufwand, ja nicht einmal um die Datenschutzproblematik. Hier wurden die Ängste der Schwächsten unserer Gesellschaft artikuliert: Der Alten, der Behinderten, der chronisch Kranken.

Wie soll ein schwer hörbehinderter Student seine Batterien alle vier Tage für 2,50 DM aufbringen? Wird es für die Epilepsiekranken mit einem Medikamentenbedarf von mehr als zehn pro Tag zukünftig nur noch Generika geben, auch wenn er wegen einer Unverträglichkeit nur teure Markenpräparate verträgt? Was bedeutet die Festbetragsregelung für die Rollstuhlfahrerin? Ist ihre Hoffnung auf einen teuren Leichtrollstuhl aus Spezialstahl nun endgültig dahin? (...)

Die konzentrierte Diskussion zeigte überdeutlich, wer die Opfer der Reform sind: Nicht die Ärzte, nicht die Industrie, ja nicht einmal die noch gesunden Versicherten. Opfer bringen allein die Kranken. Krankheit und Behinderung wird bestraft.

Aber auch die Absicherung des Pflegerisikos durch die gesetzliche Krankenversicherung wurde kritisiert. Sicher, der Problemdruck ist gewaltig, der Skandal der Versorgung Schwerstpflegebedürftiger drängt nach einer Lösung. Muß aber die sowieso schon gebeutelte Krankenversicherung auch noch diesen gewaltigen Kostenfaktor übernehmen? Hat sich denn nicht der Staat oft genug aus der Finanzierung des Gesundheitswesens erfolgreich zurückgezogen (Krankenhausfinanzierungsgesetz, Rentenanpassungsgesetz, diverse Kostendämpfungsgesetze)? Man braucht kein ideologisches Vorurteil, um den Verdacht zu äußern, mit dem Abwälzen dieser Kosten vom Staat auf die gesetzliche Krankenversicherung sollten Gelder für andere Programme freigeschaufelt werden. Die zeitliche Nähe zum Milliardenprogramm des „Jäger 90“ ist zu offensichtlich.

All dies war kein Thema für den Deutschen Ärztetag. Die Attacken gegen Blüm wirkten wenig überzeugend, wie Nachhut -Gefechte; die Standeslobby hatte längst gute Arbeit geleistet.

Gerade deshalb ist Solidarität mit den Kranken und Behinderten notwendig. Die Ärzteopposition sieht sich als Teil der Gesundheitsbewegung, als fachkundigen Partner ihrer Patienten, nicht als deren Anführer. Der Deutsche Ärztetag täte gut daran, die alternativen Strömungen endlich ernst -zunehmen und seine Rolle als Organ zur Besitzstandswahrung ärztlicher Privilegien aufzugeben. Dr. med. W. Beck, Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, Offenbach/Main

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