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Archiv-Artikel

„Bloß nicht auffallen“

Im Rahmen einer Studie über „Illegale“ in München hat der Migrationsforscher Philip Anderson Helfer und Betroffene befragt. Nicht nur die Angst vor Entdeckung belastet den Alltag der Statuslosen

Interview SANDRA PAULI

taz: Für Ihre Studie haben Sie Menschen interviewt, die es offiziell gar nicht gibt. Wie haben Sie Ihre Gesprächspartner ausfindig gemacht?

Philip Anderson: So etwas geht nur über Vertrauenspersonen. Schon im Vorfeld bestanden Kontakte zu Sozialberatern, Medizinern, Rechtsanwälten und politischen Gruppen, die ich nutzen konnte. Schwierig war es dennoch. Viele „Illegale“ sind im letzten Moment aus Angst, ihre Anonymität aufs Spiel zu setzen, doch abgesprungen. Erst als sich herumgesprochen hatte, dass es bei der Studie tatsächlich nicht um eine sicherheitsdienstliche Erhebung, sondern um eine Verbesserung der humanitären Situation geht, waren die Menschen zugänglicher.

Welche Probleme beschäftigen „Illegale“ am meisten?

Die Probleme lassen sich in drei große Themenblöcke gliedern: Wohnungsnot, Arbeitsproblematik und Gesundheit. Viele leben zu acht bis zehnt auf 20 Quadratmetern, Frauen und Männer gemischt – eine Situation, die vor allem von Frauen oft als prekär und entwürdigend empfunden wird. Diese Gemeinschaftszimmer sind dann für die einzelne Person meist nur acht Stunden am Tag vermietet. Da sie kaum rechtliche Schritte unternehmen können, ist es ihnen auch nicht möglich, verbindliche Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Ohne weiteres akzeptieren sie niedrige Löhne, trotz höherer Qualifikation, wenig anspruchsvolle Gelegenheitsarbeit und die Unsicherheit, jederzeit entlassen zu werden. Für die Betroffenen selbst ist der Lohn dabei meist das geringste Problem, zumal sie in ihrem Herkunftsland deutlich weniger erwirtschaften könnten. Man kann also von einer Win-Win-Situation sprechen. Zumindest, solange alles gut geht. Die Ungleichheit fällt erst drastisch ins Gewicht, wenn der Lohn nicht ausgezahlt wird oder gesundheitliche Probleme auftreten. Offiziell haben „Illegale“ keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, ohne dabei ihre Identität preisgeben und damit rechnen zu müssen, direkt nach ihrer Genesung abgeschoben zu werden. Bei Problemen dieser Art sind die „Illegalen“ – und es gibt in München viele von ihnen, 30.000 bis 50.000 nach meinen Schätzungen – auf die Hilfe von Netzwerken und Unterstützern angewiesen.

Wie kann es sein, dass noch nicht einmal die Unterstützer der Statuslosen dafür sorgen, dass ihre Probleme einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?

Dass man diese Menschen normalerweise nicht wahrnimmt, liegt in der Natur der Sache. Für die „Illegalen“ selbst ist die Unsichtbarkeit die einzige Strategie, die bleibt, um nicht entdeckt zu werden. Ihr ganzes Alltagsverhalten ist darauf ausgelegt, nicht aufzufallen und gefährliche Orte, wie Bahnhöfe etc. zu meiden. Aber auch die Unterstützer haben ein ganz eigenes Interesse, nicht in die Öffentlichkeit zu treten. In Deutschland ist die Rechtslage für Menschen, die „Illegalen“ helfen, nicht einfach. Der Paragraf 92 a Ausländergesetz kriminalisiert derartige Hilfeleistung. Die Helfenden leben in der ständigen Angst, sich strafbar zu machen und denunziert zu werden. Solange es diesen Paragrafen gibt, wird das Thema „Illegalität“ ein Tabu bleiben.

Welche Konsequenzen haben Hilfeleistende zu befürchten?

Gerade professionell Tätige, also beispielsweise Mediziner oder Sozialberater, können davon ausgehen, dass dieser Paragraf in der Praxis so gut wie nie zur Anwendung kommt, weil das auch aus Sicht der Behörden kontraproduktiv wäre. Das wissen nur die meisten nicht. Mir gegenüber äußerte man sich gerade von offizieller Seite her im Laufe der Untersuchung immer wieder ähnlich: „Wissen Sie, Herr Anderson, bloß keine schlafenden Hunde wecken!“

Das bedeutet nichts anderes, als dass die Behörden genau wissen, dass „Illegale“ und damit auch Netzwerke und Unterstützer existieren. Sie halten es aber offensichtlich für besser, daran nicht zu rütteln. Wenn es die Netzwerke nicht gäbe, müsste man die Problematik von offizieller Seite viel genauer zur Kenntnis nehmen.

Wie sehen die Netzwerke im Bereich der Gesundheitsfürsorge konkret aus?

In München gibt es als organisierte Initiative das „Café 104“. Dort sind engagierte Menschen mit rechtlich-medizinisch qualifiziertem Hintergrund, die sich zusammentun, um „Illegale“ zu beraten oder an Ärzte zu vermitteln. Problematisch wird es allerdings, sobald es um teure Behandlungen, Gerätemedizin oder Laboruntersuchungen geht. Es gibt aber auch andere Netzwerke: Ärzte beispielsweise, die Muttersprachler sind und von denen bekannt ist, dass sie zu bestimmten Zeiten allein in der Praxis sind und aufgesucht werden können. Die Behandlung läuft dann entweder gegen Barbezahlung, oder es wird bei der Versichertenkarte nicht so genau nachgefragt, wem sie gehört. Gelegentlich gibt es auch „Illegale“, die selbst eine medizinische Ausbildung haben. In München habe ich eine solche Frau kennen gelernt. Unter ihren Landsleuten ist bekannt, dass sie die Erstversorgung übernimmt und auch einen deutschen Hausarzt kennt, der in der Not weiterhilft. Die meisten „Illegalen“, die keine Vertrauensperson haben, handeln aber oft nach dem übergeordneten Prinzip „Ein Starker hält das aus“. Daraus entstehen Gefahren für die Betroffenen selbst, aber auch für ihre Mitmenschen, wenn es um ernste ansteckende Krankheiten geht. Eine unbürokratische Lösung vonseiten der Stadt wäre hier also dringlich.

Wie könnte die Situation der Menschen verbessert werden?

Bei der Gesundheitsproblematik wäre es wünschenswert, wenn die finanziellen Probleme, zum Beispiel durch die Einrichtung eines Fonds, geregelt werden könnten und zwar sowohl für ambulante als auch für stationäre Behandlungen. Spenden, Stiftungen, Institutionen, aber auch Krankenkassen, die ja elementares Interesse daran haben sollten, dem Versicherungskartenbetrug entgegenzuwirken, sollten in die Gründung eines solchen Fonds einbezogen werden. Dabei wäre es natürlich auch wichtig, parallel durch Sachverständige die Frage zu klären, wie man mit ansteckenden Krankheiten umgeht und wie man den „Illegalen“ eine anonyme Behandlung gewährt. Es sollte außerdem möglich werden, gemeinsam Wege aus der Illegalität zu finden. Dabei geht es einerseits um Rückkehrhilfen, denn selbst für Menschen, die es satt haben, hier in der „Illegalität“ zu leben, ist die Rückkehr oft ein gewaltiges Problem, weil sie Angst vor der Abschiebehaft haben, die sich bis zu 18 Monate hinziehen kann. Andererseits meine ich damit aber auch die Möglichkeit, gemeinsam Strategien zu entwickeln, für Menschen, die hier über die Jahre ihren Lebensmittelpunkt aufgebaut haben, Ermessenspielräume zu nutzen, um sie nachträglich anzuerkennen. Aber zunächst einmal müssen Staat, Stadt und Bürger die Situation der „Illegalen“ zur Kenntnis nehmen, um Unterstützungsmöglichkeiten entwickeln und anbieten zu können.