: Blödes T-Shirt
Beim Ballett des DDR-Fernsehens wurden viele Kalorien verbrannt: Ex-Tänzer Andreas Düpettel, 34, hat die Reste seiner letzten Gage daher „verfressen“: Buletten, Würstchen, Broiler und alles, was die Kantine sonst noch hergab. Am 1. Juli ging es dann früh um Acht nach Amsterdam, die Van-Gogh-Ausstellung anschauen.
Trotz Freude über den ersten Aufenthalt im kapitalistischen Ausland stellte sich schnell eine neue Erkenntnis ein: „Im Osten hatte ich immer genug Geld. Von der Währungsunion an musste ich rigorose Sparsamkeit lernen. Immer schön aufs Geld schauen“, bedauert Düpettel. Heute arbeitet er im Archiv des ORB in Potsdam und trainiert die Eiskunstlaufnationalmannschaft in Oberstdorf.
„Wer nix hat, braucht keine Angst zu haben“, sagt Sigrid Weise, 58, aus Berlin. Unter diesem Motto hat sie auch die Währungsunion gut überstanden. Die Museumspädagogin am Pergamonmuseum wunderte sich lediglich über die Wessis, die kistenweise billiges Mineralwasser aus dem „Konsum“ nach Hause schleppten. „Das wenige, was wir hatten, kauften sie uns auch noch weg“, so empfand sie das damals. Heute weiß sie um das Überlebensprinzip Schnäppchen. Sie selbst hat die ersten schließlich auch noch kurz vor der Währungsunion getätigt: Regenschirm und Wolldecke aus verbilligten DDR-Lagerbeständen. Für ihre drei Kinder hatte sie Sparbücher mit jeweils dreihundert Mark umschreiben lassen und anschließend in der S-Bahn liegen lassen. Der Konsumterror West hat sie nie beeindruckt, im Gegensatz zu Freunden aus Litauen. Die wollten unbedingt Levi’s-Jeans kaufen. Die größte Gefahr für Sigrid Weise waren eher die Buchläden. Das erste Westgeld wurde in Bildbände über moderne Kunst investiert. Die horrenden Buchpreise machen ihr bis heute zu schaffen.
Erstaunt war Sigrid Weise auch über die Preise für Wildfleisch und Forellen im KaDeWe: Sie hatte sich immer gewundert, warum Westbesuch dem angebotenen Ostrehrücken soviel Begeisterungsstürme entgegen brachte. Erst nach der Währungsunion wurde vielen klar, wie schön doch der Sozialismus sein konnte.
Jede Menge Gin Tonic, der Ostcocktail schlechthin, hat die Juristin Andrea S. aus Berlin am Vorabend der Währungsunion geschlürft. Und zwar in der Disco Feuerwache in Hohenschönhausen. Damals war sie noch in der Ausbildung zur Außenhandelskauffrau und neunzehn Jahre alt, über die Währungsumstellung hat sie sich damals keinen großen Kopf gemacht. Der erste Westeinkauf war auch ganz cool: ein Erdbeereis in Coburg.
Nach der Währungsunion wurden erst mal die Kaufhallen am Berliner Stadtrand abgefahren: Statt nach Intershop roch es immer noch nach DDR, und die Regale waren fast leer. Juliane Martinius, 25, Studentin der Stadt- und Regionalplanung in Potsdam, erinnert sich an ihre Enttäuschung. Die Ostware war vergriffen, die neuen Sachen noch nicht eingetroffen. Zu den Hamsterern der Ostrestbestände gehörten auch ihre Eltern, die auf Vorrat Unmengen an Zucker, Mehl und Waschmittel gebunkert hatten. Sie selbst ist nicht in Kaufrausch verfallen: Für fünf Mark hat sie sich ein „blödes, schwarzes T-Shirt“ im Europacenter am Tauentzien gekauft. Der erste Familienurlaub in Österreich stand unter dem Gebot der Sparsamkeit: Stullen schmieren im Hotelzimmer statt schlemmen im Restaurant. Die neue Freiheit ging einher mit der neuen Beschränkung.
MARTIN REICHERT
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