: Blick in den Abgrund
Zweimal im Jahr trumpft Radio Bremen auf: Die kleinste Anstalt in der ARD dreht die derzeit besten „Tatorte“ und lehrt uns heute mit dem Münchhausen-Syndrom das Fürchten (So., 20.15 Uhr, ARD)
von CHRISTIAN BUSS
Die besten „Tatort“-Produktionen werden zurzeit von der kleinsten ARD-Anstalt geliefert. Immer wenn man sich fragt, ob Radio Bremen eigentlich noch existiert, drängt sich der Sender mit einer besonders aufklärerischen Folge der Krimiserie ins Bewusstsein. So ungefähr zweimal im Jahr. Das ist schon bemerkenswert, denn seit Änderung des Rundfunkfinanzausgleichs stehen ein Drittel weniger Einnahmen zur Verfügung. Die so entstandenen Lücken im „Tatort“-Etat werden allerdings solidarisch von anderen ARD-Einrichtungen geschlossen, von der hauseigenen Produktionsfirma Degeto etwa oder, wie jetzt für die Folge „Der schwarze Troll“, vom WDR. In Anbetracht dieses komplizierten Finanzierungsmodells erscheint es umso erstaunlicher, mit welcher Konsequenz im Bremer „Tatort“ gesellschaftsrelevante Sujets verhandelt werden. So sendete man kurz vor der letzten Fußball-WM ein Lehrstück über unterdrückte Sexualität und Ausbeutung im Kickermilieu oder nahm nach der Debatte über die APO-Vergangenheit Joschka Fischers die politischen Altlasten innerhalb der hiesigen Eliten ins Visier.
Zugegeben, für das Renommierobjekt „Tatort“ legen sich auch die anderen ARD-Sender mächtig ins Zeug. Doch während dort meist dringliche Themen so lange von den üblichen Bedenkenträgern und Konsensverwaltern durchgewengelt werden, bis sie auf Boulevardformat nivelliert worden sind, bleibt der Blick auf die Gesellschaft bei den Bremern einigermaßen unvoreingenommen. Gern stellt man sich den Zwergensender als Apparat der kurzen Wege vor, wo stimmige Drehbücher nicht auf unendlichen Touren durch die Anstaltsbürokratie verwässern. Hier ist der „Tatort“, was er in seinen besseren Momenten immer war: eine präzise Phänomenologie der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. In der aktuellen Folge geht es um das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einen psychischen Defekt, der zur Zeit häufiger in den Medien behandelt wird. Mütter, die darunter leiden, quälen ihre Kinder erst, um ihnen danach helfen zu können. Ein perfider Mechanismus wird dadurch in Gang gesetzt: Zum einen lässt sich der Missbrauch durch die unauffälligen Mütter nur schwer nachweisen, zum anderen befördert die Beschäftigung mit ihm eine gewisse Paranoia, da man nicht eindeutig zu diagnostizierende Gebrechen bei Kindern allzu schnell als Münchhausen-Folge fehldeuten kann.
Ein gefundenes Fressen für Denunzianten und Hysteriker. In „Der schwarze Troll“ indes fungiert das Syndrom als dramaturgische Grundlage eines ruhigen Kammerspiels, das bis zum Schluss immer neue verstörende Wendungen bereithält. Nach und nach zeigen sich die monströsen Auswirkungen der Krankheit – ohne dass die Kranke selbst zum Monstrum stilisiert wird.
Die Feinfühligkeit im Umgang mit dem heiklen Stoff resultiert wohl auch aus der Tatsache, dass man die Fallstudie gleichsam zur Frauensache erklärt hat: Redakteurin Annette Strelow, die schon etwas länger die Geschicke des Bremer „Tatorts“ lenkt, engagierte eine Reihe weiblicher Fachkräfte. Das Skript stammt von der Theaterautorin und Verbrechensforscherin Thea Dorn („Ringkampf“), die Regie übernahm die beim Dreh hochschwangere Vanessa Jopp („Vergiss Amerika“), und fotografiert wurde der Film von Judith Kaufmann, deren oft wie gerahmt wirkende Halbtotalen wenig Platz lassen für die Hysterie des Boulevards.
Dass man die Hauptrolle mit der Theaterschauspielerin Judith Engel besetzte, erwies sich als weiterer kluger Schachzug: Engel spielt so still und so gütig, dass man die Anomalie der Mutter, die sich langsam offenbart, nicht wahrhaben will. Das durchaus schlüssige Täterrätsel, in dem es um Medikamente- und Machtmissbrauch geht, gerät so in den Hintergrund. Dafür wird dem Publikum eine gewisse Sensibilität für die behandelte Krankheit abverlangt. Bald treibt es nur noch eine Frage: Welcher Abgrund verbirgt sich hinter dem sanften Lächeln des Muttertieres?