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Bleibt denn gar nichts vom alten Glauben?

Sowjetische Veteranen aus dem „Arbeitskampf“ suchen in Massenblätter und wissenschaftlichen Publikationen nach Trost Radikale Infragestellung alter Prinzipien ohne neue Orientierung/ Nicht Marx war schuld, sondern die falschen Marxisten  ■ Aus Moskau Umberto Cerroni

L. A. Kallistow, „Veteran des Krieges und der Arbeit, Mitglied der KPdSU aus Zwenongorod“ (Region Moskau), sah sich unvermittelt landesweiter Aufmerksamkeit ausgesetzt. In einem Brief an 'Kommunist‘, die „theoretische und politische Zeitschrift des Zentralkomittees der Partei“ schreibt er: „Eure Zeitschrift nennt sich noch immer 'Kommunist‘. Einverstanden. Aber dann sollte sie den Kommunismus analysieren und verteidigen.“ Und die Grundprizipien des Kommunismus lauten seit Marx, wie der Schreiber in Erinnerung bringt, eindeutig: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Er wolle nun wissen, wie man es künftig mit derlei Maximen halte. Die Zeitschrift veröffentlichte den Brief in voller Länge.

Schreiben solcher Art laufen seit Beginn der Perestroika in allen Blättern der Union ein. In letzter Zeit stellt sich jedoch immer häufiger ein Typus von Fragen ein: Was bleibt uns noch, wenn immer mehr uns als teuer eingeprägte Begriffe verdächtigt oder gar verdammt werden? Bei 'Trud‘ fragte kürzlich ein „Held der Arbeit“ nach, „wann man den Namen Marx, wie früher nach dem Sturz von KP-Chefs, nicht einmal mehr in der ,Großen Sowjet-Enzyklopädie‘ finden“ werde.

Die Redaktion des 'Kommunist‘ antwortete auf die Gretchenfrage des Veteranen Kallistow, wie man es mit Marxens Grundmaximen halte, ungewohnt: man wolle schlicht und radikal den Namen des Blattes zur Diskussion stellen — weg mit 'Kommunist‘. Unter dem Titel „Kommunistische Utopie oder kommunistische Idee?“ verweist die Zeitung darauf, daß „bereits viele Kommunistische Parteien in Ost und West ihre Bezeichnung geändert haben“. Skrupel müsse man dabei nicht haben: „Der Name kann sowieso auch eine taktische Frage sein: Marx und Engels arbeiteten, ohne ihre Grundeinstellung zu ändern, mal in der Kommunistischen Liga, mal in der Internationalen Arbeiterassoziation, auch in der Sozialdemokratischen Partei.

'Kommunist‘ kann also fallen — und zwar, wie die Blattmacher erklären, nicht nur als Zeitungsname; man müsse auch den entsprechenden Gesellschaftsbegriff infrage stellen. Der Grund: Ins Programm der KPdSU von 1961 hatten die KP- Chefs hineingeschrieben: „Wir erklären feierlich, daß die gegenwärtige Generation im Kommunismus leben wird.“ Die Ankündigung wurde 25 Jahre fortgeschrieben und verschwand sang- und klanglos, als das Programm des 17. Parteikongresses verabschiedet wurde. Und nun fragt der 'Kommunist‘: „War es vielleicht gerade diese feurige Ankündigung, die heute die These vom ,Zusammenbruch des Kommunismus‘ erst ermöglicht?“ Tatsächlich sei ja allenfalls der Vulgärkommunismus zusammengekracht, der den Leuten „Trüffel, Autos und Klaviere“ verspreche.

Marx, so der 'Kommunist‘, hat seine Voraussagen ohne alle Zeitangaben gemacht und noch dazu gebunden an eine Reihe objektiver, an den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt gebundene Bedingungen geknüpft. Erst jetzt erkenne man, daß man diese Bedingungen erst noch schaffen müsse. Genau das sei der neue Inhalt sozialistischer Politik.

Das radikale Infragestellen selbst geheiligter Prinzipien des Marxismus ist inzwischen Allgemeingut geworden — und die gleichzeitige Ehrenrettung Marxens ebenfalls. Darin freilich unterscheiden sich die Massenblätter nicht von der wissenschaftlichen Publizistik. Bereits seit der Veröffentlichung der „Grundrisse“ 1939-41 plagt die Vordenker die Frage, was Marx denn selbst unter „Marxismus“ verstanden haben würde. Die Zeit verging, die Frage blieb.

Erst Ende der 80er Jahre rafften sich einige Theoretiker zu einer gründlichen Bestandsaufnahme auf. So etwa der Philosoph V. S. Markow, in der Zeitschrift der Akademie der Wissenschaften: „Der unverstandene Marx“. Kernfrage: „Auf welche Daten kann sich denn überhaupt eine künftige Entwicklung des Kommunismus stützen?“ Antwort: „Gehen wir aus davon, daß der Kommunismus aus dem Kapitalismus hervorgeht, so muß er das Ergebnis der sozialen Kraft sein, die aus dem Kapitalismus entstanden ist. Nicht Marx“, schreibt Markow, ist also „schuld an unserer derzeitigen Misere, sondern jene ,Marxisten‘ sind es, die den Sozialismus aus einer Wissenschaft in eine als Wissenschaft verkleidete Willkür verwandelt haben.“ Für die künftige Entwicklung brauche man aber genau sie — die Wissenschaft, „keine sozialistischen oder kommunistischen Slogans oder fromme Wünsche, daß sich der Sozialismus erneuere“.

Für eine „Analyse der genetischen Verbindung zwischen Sozialismus und Kapitalismus“ ist nach Markow aber auch noch etwas anderes vonnöten: „Eine Neubewertung auch anderer Verbindungen, etwa derjenigen zwischen Kapitalismus und westlicher Welt.“ Wenn die protestantische Ethik nicht mehr als Erklärungsschlüssel für den Kapitalismus ausreicht wieso sollte nun eine andere Ethik (die des Kommunismus) zu der Erkenntnis helfen können, wohin sich die Welt bewegt?

Kein Zweifel: Der Arbeiterveteran Kallistow und der Wissenschaftler Markow, brüten über der gleichen Frage. Sie wissen nicht, wie mit dem „alten“ Sozialismus umzugehen ist und ebensowenig welche der unzähligen Gegenpositionen man denn nun einnehmen könne.

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