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Bisschen davongekommen

Vom Wegträumen des Traumas: In Radu Mihaileanus raffiniert grotesker Komödie „Zug des Lebens“ deportiert sich ein jüdisches Dorf während der Nazizeit selbst – nach Palästina

von BRIGITTE WERNEBURG

Es gibt Filme, die desto bezwingender werden, je öfter man sie sieht. Radu Mihaileanus „Zug des Lebens“ gehört zu ihnen. Es mag daran liegen, dass der Film sich erst vom Ende her erklärt – weil Mihaileanu ihn vom Ende her erzählt: „Für mich handelt er eigentlich nicht von einer Gemeinde, die zu entfliehen versucht. Für mich ist er die Geschichte eines Mannes, ganz allein, in einem Lager, der alle Nachbarn und Freunde verloren hat. Er will aber nicht glauben, dass sie tot sind, und so sagt er sich, wenn ich sie in meinem Kopf behalte, wenn ich träume, dass sie entkommen sind, dann sind sie tatsächlich ein bisschen davongekommen.“

Der Träumer ist Schlomo (Lionel Abelanski), der Dorftrottel in einem kleinen Schtetl in Osteuropa im Jahr 1941. Er versetzt sein Dorf in helle Aufregung, weil er berichtet, dass die anmarschierenden Nazis das nächstgelegene Schtetl schon deportiert haben. Glücklicherweise hat Schlomo nicht nur die schlechte Nachricht, sondern auch die gute, närrische Idee: Bevor es die Nazis tun, deportieren wir uns doch lieber selbst – und zwar nach Palästina.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Schließlich braucht man nicht nur zu deportierende Juden, sondern auch Nazis. Und wer aus dem Schtetl will schon ein dreckiger Nazi sein? Einerseits. Andererseits haben die SS-Leute die eleganten, komfortablen Reisewagen – und die anständigen Schtetlbewohner nur die Viehwaggons. Das macht schon einen Unterschied.

Doch selbst wenn man sich dazu entschlossen hat – es ist gar nicht so einfach, die Nazi-Identität anzunehmen. Nein, sie will verdient sein! Indem man korrektes Deutsch spricht, wie Mordechai, der Holzhändler, der nun der Herr Obersturmbannführer ist. „Faschist“ beschimpft ihn darauf hin Yossi, der nicht nur die gefälschten Pässe aus der Stadt mitbringt, sondern auch die Idee der kommunistischen Weltrevolution.

Eine Idee, die der Rabbi in Hinblick auf Yossis Problem mit der schönen Esther verständlicherweise als die Aufforderung „Männer und Frauen aller Länder, vereinigt euch“ missversteht. Nur hat Yossi, just in dem Moment, da er Kommunist wird und der Vereinigung von Männern und Frauen dient, gar keine Zeit mehr für die hinreißende Verführerin.

Es sind diese raffinierten Volten, die man beim zweiten oder dritten Sehen von „Zug des Lebens“ erst richtig – ja, man muss das wohl so sagen – goutieren kann. Wie etwa auch die Besetzung des Yossi, die Michel Muller so klischeekonform als hässlichen intellektuellen Vogel zeigt, dass er fast zwangsläufig zur subversiven Figur werden muss; oder wie die nahezu musicalhaft angelegte, mit deftiger Klezmermusik unterlegte Szene von der Räumung des Dorfes.

Denn sobald man nicht mehr darüber irritiert ist, ob man womöglich wider Willen sogar über das mörderische Ende dieses neuerlichen Auszugs der Juden aus einer babylonischen Gefangenschaft hinweglachen wird, kann man Mihaileanus Komödie des Holocaust aus lauterem Herzen bewundern. Man freut sich am Porträt einer idealen Gemeinde, wie sie sicher nie existiert hat, wie sie aber konstruiert werden muss, um das Anliegen Mihaileanus zu transportieren: „Mein Film handelt gar nicht von der Shoah. Er handelt von einer vernichteten Kultur, der Schtetl-Kultur. Ich spreche vom Holocaust, indem ich ein wundervolles Bild der Humanität entwerfe. Ich gehe nicht in die Konzentrationslager. Nicht weil Claude Lanzman sagt, das sei verboten. Sondern weil ich mit meiner kleinen, minderen Kunst, dem Kino, das dazu verdammt ist, die Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern immer zugleich zu repräsentieren, die Lager nicht darstellen kann. Gleichgültig ob dort eine Tragödie oder eine Komödie angesiedelt ist.“

Überlebensmut und Widerstandsgeist gehören in Mihaileanus Film glücklicherweise nicht einer Figur allein. Sie gehören einem ganzen Schtetl, mehr noch: einer ganzen Kultur: Auch die verfolgten Zigeuner sind Teil jener osteuropäischen Kultur, die Mihaileanu meint. Selbst die Partisanen werden nicht vergessen – auch wenn deren von der großen Mutterpartei ferngesteuertes Kommando nun wirklich eine einzige Lachnummer ist. Doch gerade dieser Trupp zeigt, wie der rumänische Regisseur, indem er das Panorama des Kriegs auf dem Balkan so weit wie möglich auffächert, sich viel reicheren und treffenderen Anlass zum Witz schafft als Roberto Benigni in „Das Leben ist schön“. Dass Radu Mihaileanu 1997 dem italienischen Komiker die Rolle des Schlomo angeboten hatte, die Benigni dann aber nicht annahm – und stattdessen sein eigenes Holocaust-Märchen schrieb und verfilmte –, brachte einige Spekulationen und Vergleiche mit sich.

Das Publikum jedenfalls überhäufte „Zug des Lebens“ von Anfang an mit großer Zustimmung. 1998 demonstrierte es auf den Filmfestspielen von Venedig für weitere Aufführungen, und im gleichen Jahr erhielt „Zug des Lebens“ die Publikumspreise in São Paulo und in Cottbus, 1999 folgte unter anderem auch der des Sundance-Filmfestivals.

Diese Erfolge bedeuteten, dass der Film in den weltweiten Verleih gelangte, wie der Regisseur im Interview erzählt: „Es gab nur zwei Länder, in die sich der Film lange Zeit nicht verkaufte, ausgerechnet Deutschland und Japan. Australien, Südafrika, sogar China kaufte ihn, wobei ich nicht weiß, was sie mit den Kommunisten machen, aber das ist ja ihr Problem.“

„Zug des Lebens“, Buch und Regie: Radu Mihaileanu. Mit Lionel Abelanski, Rufus, Clément Harari u. a., Frankreich 1998, 103 Min.

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