: „Bis nur das Heim übrigbleibt“
■ Sparschraube bei Pflegekostenübernahme: 60 Behinderte fürchten „Zwangseinweisungen“ in Pflegeheime / Neue Verwaltungsanweisung
„Freiwillig gehe ich nicht wieder ins Heim zurück!“ Viereinhalb Jahre hat der schwerbehinderte Jörg Vosteen in den Anstalten Friedehorst verbracht – nun hat er Angst, wieder an einem solchen Ort leben zu müssen. So wie ihm droht rund 60 Behinderten in Bremen das Ende ihrer ambulanten Betreuung zu Hause, Behindertenverbände befürchten gar „Zwangseinweisungen“ – weil sie der Sozialbehörde zuviel Geld kosten.
Nach einer am 1. April erlassenen Verwaltungsanweisung sollen bei den teuren Pflegefällen, die Sozialhilfe beziehen, nicht mehr die vollen Kosten erstattet werden – „das könnte so weit gehen, daß einem Betroffenen nichts anderes übrig bleibt, als gegen seinen Willen ins Heim zu gehen, weil nur dort seine Pflege sichergestellt ist“, sagt Doris Galda von der Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“. Bremer Behindertenverbände forderten gestern die Rücknahme der Anweisung.
Die seit einem Jahr umstrittene Verwaltungsanweisung mußte Bremen nach den Anforderungen des Bundessozialhilfegesetzes formulieren – „eine juristische Zwangslage“, so Wolfgang Beyer, Sprecher der Sozialbehörde. Sie lautet nun: Bei Menschen, deren häusliche Pflege mehr als 30 Prozent teurer ist als eine vergleichbare stationären Behandlung, muß eine Streichung der Mehrkosten überprüft werden, wenn eine angemessene stationäre Versorgung gewährleistet ist. In Bremen werden rund 1.500 Menschen ambulant versorgt, darunter ca. 150 mit einem hohen Pflegeaufwand – und die 30-Prozent-Rechnung betrifft etwa 60 von ihnen. 60 Menschen, die nun Angst haben müssen, aus ihrem sozialen Umfeld gerissen zu werden.
„Es wird keine Zwangseinweisungen geben“, sagt Wolfgang Beyer. Stattdessen werde geprüft, ob nicht innerhalb des bisherigen Wohnquartiers eine optimale – und billigere – Versorgung beispielsweise in einem betreuten Wohnprojekt möglich ist. „Kleine Wohngruppen, die zusammen passen – da wird also kein 30jähriger Behinderter in ein Altenpflegeheim eingewiesen, bloß weil da ein Platz frei ist“, so Beyer. Solche Wohngruppen werden in Bremen verstärkt eingerichtet. Beyer: „Das politische Ziel ist es ohnehin, von den großen Einrichtungen wegzukommen – hin zu kleinen Einrichtungen.“ Genau das war bislang allerdings nicht politisches Ziel: das hieß nämlich weg von den großen Einrichtungen – „ein Knast ohne Gitter“, wie es Jörg Vosteen nennt – hin zu ambulanter Pflege. Bei dieser Art von Kostenübernahme haben schwere Fälle aber keine Chance, ambulant versorgt zu werden.
Sozialsenatorin Gaertner hat sich vorbehalten, nun jeden einzelnen solcher Fälle persönlich zu prüfen: Wenn die Verwaltungsanweisung ernst genommen wird, müßte sie entscheiden, daß einer Behinderten, die die eigene Wohnung dem betreuten Wohnen vier Straßen weiter den Vorzug gibt, die Mehrkosten gestrichen werden. Falls die Betroffene dann keine Geldquelle mehr hat, wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als trotzdem in die Wohngruppe umzuziehen. skai
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