■ Radfahrer als Freiwild: Billiges Leben
Jemand zu töten, so wissen wir seit gestern, kostet zehn Monate BVG-Fahren. Das ist schon die verschärfte Strafe für denjenigen, der sich kein Taxi leisten kann. Das mag unangemessen sarkastisch klingen, doch genau diese simple Wahrheit hat ein Gericht gestern quasi amtlich als Preis für das Leben einer Radfahrerin festgelegt. Denn die neben dem zeitweisen Führerscheinentzug verhängten zehn Monate auf Bewährung greifen in den Alltag des Todesfahrers, der die vorfahrtsberechtigte Frau beim Abbiegen – möglicherweise noch mit überhöhter Geschwindigkeit – tötete, in keiner Weise ein. Für die Radfahrer, die sich auf den Rennbahnen der Stadt oft genug wie Freiwild vorkommen, muß dieses Urteil wie eine Verhöhnung der getöteten und verletzten Pedaltreter wirken. Die nach den Fußgängern schwächsten Verkehrsteilnehmer dürfen sich als vernachlässigbare Quantität fühlen; nur dann kurz wahrgenommen, wenn die Zahl der Toten neue Höchstwerte aufweist. Und das wird auch in diesem Jahr mit furchtbarer Wahrscheinlichkeit wieder der Fall sein: Wurden im gesamten Jahr 1992 vierundzwanzig Radler getötet, so waren es – die polizeiliche Statistik reicht nicht weiter – bis Ende August bereits achtzehn Menschen. Die Ursachen sind seit Jahren bekannt: Die meisten Opfer sind Kinder, und einem Drittel aller Radler wurden unbedacht rechtsabbiegende Autofahrer zum Verhängnis. Auf Antworten aus der Politik, wo das Primat des Autofahrers trotz einer ständig wachsenden Zahl von Radfahrern gepflegt wird, brauchen die Radfahrer wohl nicht zu warten. Dazu, so hat es das Gericht noch einmal festgehalten, ist das Leben eines Radfahrers viel zu billig. Gerd Nowakowski
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