piwik no script img

Bewegte Jahre

■ Stationen im Leben eines Katers

Gabriele Goettle

Im Juli 1976 saß ein rotbraun gestreifter Kater im Katzengehege des Tierheims Lankwitz und ließ sich durch den Zaun hindurch von einem Knaben hinter dem Ohr kratzen. Auch die Kindesmutter war mit der Auswahl ihres Sohnes einverstanden.

Der Kater hielt Einzug in ein modernes Zweizimmerappartement im Süden der Stadt. Bereits im Alter von zweieinhalb Monaten erwartete man von ihm, an der Lösung familiärer Konflikte mitzuwirken, wovon er freilich nichts wußte. Zwischen der alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn stand es nicht zum Besten. Sie war Anfang fünfzig und arbeitete in der Filmbranche, er war neun, ein schwieriger Knabe, der sich in der Rolle des Schlüsselkindes, das sich mittags vorgekochtes Essen aufwärmt, nicht wohl fühlte.

Alle wechselseitigen Bemühungen um Verständnis füreinander blieben ohne einen praktischen Erfolg. Die schulischen Leistungen des Knaben verschlechterten sich unaufhaltsam. Er war auf dem besten Wege, ein notorischer Bummelant und Schulschwänzer zu werden. Die Mutter war aus beruflichen Gründen außerstande, eine häusliche Kontinuität zu gewährleisten. Ein letzter Versuch vor der Anmeldung in einem Internat wurde mit der Anschaffung eines Haustieres unternommen. Der Knabe sollte Verantwortung übernehmen und nicht weiterhin in eine leere Wohnung heimkommen müssen.

Der Kater saß mitten auf dem blütenweißen Flokati und spielte sorglos mit den Wollfäden. Mutter und Sohn lachten, waren gerührt, umarmten sich und nannten den Kater Yussuf. An diesem Abend waren alle sehr glücklich, man aß Spaghetti, streichelte das Tier und gab ihm Putenleber.

In der folgenden Zeit gewöhnte sich Yussuf sehr gut an die neue Umgebung. Er lernte Gebote und Verbote zu beachten und wurde ein manierlicher und freundlicher Mitbewohner. Tatsächlich verbesserten sich die schulischen Leistungen des Knaben vorübergehend, ließen dann aber wieder nach, insbesondere deshalb, weil der Knabe es oft vorzog, zu Hause bei seinem Kater zu bleiben. Die Kommunikation zwischen beiden war zwar beschränkt auf wilde Spiele mit Stanniolkugeln und Wollfäden, dennoch war die Beziehung ausgesprochen innig. Wenn er alleine war, saß Yussuf in den Blumenkästen auf dem Balkon, um auf vorbeifliegende Vögel und Insekten zu lauern.

Die Zeit verging, es war Anfang September 1977, der Kater hatte sich zu einem kräftigen Tier entwickelt undd war nun fast eineinhalb Jahre alt. An diesem Vormittag hatte der Knabe wieder einmal die Schule versäumt und saß mit Yussuf auf dem Boden vor dem Fernsehgerät, um das Schulfunkprogramm zu betrachten. Auf mehrmaliges Klingeln und Klopfen an der Wohnungstür reagierte er solange nicht, bis diese splitternd und krachend aus den Verankerungen barst. Noch ehe er sich recht erheben konnte, stürmte ein Trupp martialisch uniformierter Polizisten ins Wohnzimmer. Bewaffnete mit der Maschinenpistole im Anschlag postierten sich an Türen und Fenstern. Der vollkommen verstörte Knabe, der glaubte, man brächte ihn jetzt mit Gewalt in die Schule zurück, wurde vom Einsatzleiter am Arm gefaßt und befragt, wo seine Mutter sei und ob sich sonstige Personen im Haushalt aufhalten oder aufgehalten haben. Während das Kind stockend Auskunft gab, durchsuchten einige der Polizisten bereits mit Getöse die Räume, zogen Schubladen heraus und rissen die Matratze im Kinderzimmer aus dem Bett, unter das sich Yussuf geflüchtet hatte. Als die Aktion beendet war, zog das Kommando mit mehreren Aktenordnern und einem Karton voller Briefe und Fotografien wieder ab.

Kaum war der Wagen vom Hof gefahren, erschienen die neugierigen Nachbarn im Flur und betrachteten den Knaben, der, seinen Kater an sich pressend, schockiert im Chaos saß. Die Mutter wurde telefonisch herbeigerufen und betrat entsetzt den Schauplatz der Ereignisse. Amtliche Anfragen und Beschwerden ihres Rechtsanwalts ergaben wenig. Man erfuhr, es bestehe der Verdacht auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die Unterlagen blieben beschlagnahmt. Es folgten Vorladungen und Verhöre über die Herkunft diverser Flugblätter und Broschüren. Die Tür mußte auf eigene Kosten repariert und eingesetzt werden, denn die Versicherung lehnte eine Schadensregulierung ab. Ende September ließ das behördliche Interesse vollständig nach. Gegen Unterschrift wurden die Ordner und Briefe ausgehändigt und versichert, ein weiterer Verdacht läge nicht vor.

In den folgenden Jahren kam der Knabe im Gymnasium gerade soweit mit, daß er die Versetzung in die nächsthöhere Klasse schaffte. Als auch das höchst fraglich wurde, beschloß die Mutter unbeugsam, ihn in einem Internat im Odenwald anzumelden, was zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden führte.

Nachdem Yussuf, bis auf die kurzen Abendstunden, nun alleine in der Wohnung lebte, begann er überall in der Wohnung herumzupissen, zerkratzte die Polstermöbel und Tapeten. Seine übelste Tat war, daß er ins Bett der Frau pißte, so daß sie in dieser Nacht im Kinderzimmer schlafen mußte und den Entschluß faßte, das Tier zu entfernen. Sie versuchte in den nächsten Tagen, es in gute Hände zu geben, doch es fanden sich keine. Gerade als sie sich entschlossen hatte, den Kater einschläfern zu lassen, bot sich durch Zufall doch ein Platz.

Yussufs neues Zuhause war um vieles größer als das vormalige, was aber wenig Vorteile brachte, denn die Familie war geteilter Meinung über ein Haustier, und so beschloß man, ihn nur im Wohnzimmer herumlaufen zu lassen. In der Wohnung lebte ein Ehepaar Mitte sechzig mit seinem Sohn, der Anfang vierzig war. Der Mann hatte sich, seit er aus dem Berufsleben ausscheiden mußte, neben einem Beinbruch auch ein gerade chronisch werdendes Asthmaleiden zugezogen. Er verbrachte seine Tage zurückgezogen im Arbeitszimmer. Dort saß er hustend am Schreibtisch, auf dem sich immer noch alte Verlagspost stapelte, las Neuerscheinungen, machte Notizen in Kurzschrift, um dann später doch von einer Rezension abzusehen. Bei warmem Wetter studierte er die Tageszeitungen auf dem Balkon, neben sich auf dem Tisch eine Tasse Tee und ein Päckchen Reval.

Die Gattin saß währenddessen im Wohnzimmer, las Illustrierte, betrachtete Kunstbände und trank Tee. Yussuf lag zusammengerollt auf ihrem Schoß und war es zufrieden. Sie sorgte mit pedantischer Regelmäßigkiet für vier Mahlzeiten am Tag, die sie mit großer Sorgfalt und Umständlichkeit zubereitete. Wie unter Zwang zog sie auf die Minute einen hölzernen Teewagen mit Speisen und Geschirr von der Küche ins Wohnzimmer, und das seit über zwanzig Jahren in dieser Wohnung, ebenso wie zuvor in einer anderen. Zwei Türschwellen mußten überwunden werden und jedesmal sprangen Porzellan und Besteck mit großem Geklapper in die Höhe. Auf dieses unverkennbare Zeichen hin erschienen Gatte und Sohn sofort bei Tisch.

Der Sohn trat aus seinem Zimmer, einer ehemaligen Besenkammer, und half zuvorkommend beim Tischdecken. Er war die unglücklichste Gestalt in der Familie. Einst hoffnungsvoller Sprößling und altkluger Schüler eines humanistischen Gymnasiums, hatte er dennoch beim Studium der Rechte versagt. Später waren sich die beiden Alten darüber einig geworden, daß es falsch war, ihn noch als fünfzehnjährigen im elterlichen Garten alleine mit einem gepunkteten Ball spielen zu lassen. Er hatte sich weder als Volontär ins Verlagsleben noch als Bote in den Broterwerb hineinfühlen können. Auch der Rundfunk behielt ihn, trotz außergewöhnlich gepflegter Stimme und Sprechweise, nicht länger als ein halbes Jahr. Bei Personen beiderlei Geschlechts rief er eisige Ablehnung hervor. Um den Mangel an Freunden zu kompensieren, hatte er durch gutes Spielen feste Schachpartner gefunden, mit denen er Abend für Abend um Biere und kleine Beträge in einer Eckkneipe spielte.

Er hauste tatenlos in der Kammer neben der Küche und bekam von den Eltern sozusagen das Gnadenbrot als Entschädigung für die fehlgeschlagene Erziehung. Im Lauf der Jahre war er zusehends verwahrlost, trug das kastanienbraune Haar lang und fettig, wusch sich ungern und verabscheute es, seine Kleidung zu wechseln, die auch im Hochsommer aus einem dicken Winterpullover und einer durchgesessenen Cordhose bestand.

Bei Tisch saß man mit mäßigem Appetit beisammen, darauf bedacht, möglichst schnell in die eigenen vier Wände zurückzukehren. Yussuf verlieh den Mahlzeiten etwas Unterhaltsamkeit und Entkrampfung. Seinen possierlichen Bettelkünsten mochte keiner widerstehen. Er ging reihum und blickte mit seinen türkisfarbenen Augen ernst und sachlich in die Gesichter der Essenden. Schon an der kleinsten abweichenden Bewegung erkannte er die Absicht, ihm etwas zukommen zu lassen. Die Frau nahm kleine Fleischstückchen aus ihrem Mund und gab sie ihm auf der Handfläche. Der Mann schnitt große Ecken vom Gebratenen ab und warf sie unter den Tisch, während der Sohn die sehnigen und fetten Stücke herabreichte. Im gemeinsamen Vergnügen an der zügellosen Gier des Katers lag bisweilen ein Anflug von Herzlichkeit.

Gerade als es schien, als habe Yussuf die Atmosphäre erheblich aufgelockert, war für die Frau die Zeit gekommen, ihre alljährliche Kreuzfahrt auf dem Schwarzen Meer anzutreten. Dem Sohn wurde die Pflege des Katers ans Herz gelegt und die Frau reiste ab. Der Mann hingegen, statt wie seit Jahrzehnten üblich - ebenfalls zu verreisen, blieb zurück und nahm die Beziehung zu seiner früheren Sekretärin wieder auf. Yussufs Leben wurde nun ausgesprochen öde, und da auch Nahrung nur unregelmäßig zu bekommen war, versetzte er das Zimmer in einen beklagenswerten Zustand. Der Sohn streute ab und zu eine Handvoll Katzenstreu über die Würste und Pißstellen auf Teppich und Parkett und suchte das Weite.

Nach ihrer Rückkehr war die Frau aus all diesen Gründen sehr bald einem Herzanfall nahe und ihr schlechter Zustand ließ den Gatten herbeieilen. Nachdem es der Putzfrau nach tagelanger Arbeit gelungen war, die Wohnung wieder in Ornung zu bringen, machte man den Versuch einer Versöhnungsfeier mit Champagner und Blumen. Das Paar saß beisammen. Über den orientalischen Teppichen schwebte immer noch ein raubtierhafter Geruch, aber dann machte die Frau eine Bemerkung über die dreckige Hure, die nun das Nachsehen habe und mit der Stimmung war es vorbei.

Drohende Herzanfälle und nächtliche Asthmakrämpfe beider Eheleute überboten sich in der folgenden Zeit gegenseitig, wodurch die Gesundheit allmählich wirklich bedroht wurde. Der Kontakt des Mannes zu seiner Geliebten hatte sich auf sparsame Telefonate reduziert. Ungeachtet dieser Lage hielt die Frau eisern den gewohnten Tagesablauf ein. Wie der lebendig gewordene Vorwurf rumpelte der Servierwagen pünktlich über die Schwellen, wobei der besonders entgegenkommende Yussuf jedesmal Gefahr lief, überrollt zu werden. Man speiste in eisigem Schweigen oder bei brüllend laut gestelltem Fernsehgerät. Die Frau gab sich schwerhöriger als sie war. Die Mahlzeiten waren von unverminderter Güte. Ab und zu warf man Yussuf noch etwas zu, wurde er aber zudringlich, stieß man ihn, ohne hinzusehen, mit dem Fuß zur Seite.

Mindestens einmal pro Woche mußte der Notarztwagen gerufen werden. Es wurden Herzmittel und entkrampfende Medikamente verabreicht an die beiden Patienten. Der Mann rauchte, so gut es ging, und wälzte sich bei feuchtem Wetter nachts in Hustenanfällen halb erstickt in seinem Bett im Arbeitszimmer. Die Gattin klopfte wegen der Ruhestörung empört an die Wand. Der Sohn saß mit Augenringen in der Kneipe beim Schach oder dichtend in der Besenkammer, wobei ab und zu Yussuf bei ihm bleiben durfte.

Vier Monate vor seinem Tod verließ der Mann die eheliche Wohnung für immer. Mit fünf Koffern zog er ins Dreizimmerappartement seiner Sekretärin, die mit ihrer alten Mutter zusammenlebte. Wie es ihm dort erging, ist nicht bekannt. Die verlassene Gattin jedenfalls erholte sich zusehends und konzentrierte alle Kräfte auf das Ausmisten der Wohnung. Zuerst wurde Yussuf endgültig aus dem Wohnzimmer verbannt und ins Badezimmer abgeschoben. Dort führte er ein fast vollkommen isoliertes Leben zwischen Klobrille und Badewanne, fing die Tropfen mit der Pfote, wenn sie sich vom Wasserhahn gelöst hatten und kratzte jämmerlich miauend den Lack von der Tür. Für seine Nahrung sorgte die Frau in überreichlichem Maße, und seit sie entdeckt hatte, daß er gern Butter leckte, gab sie ihm täglich mehrere Stücke, nannte ihn ihren „Butterkater“, sah zu, wie er fett wurde und schob ihn mit dem Fuß von der Tür zurück, wenn sie das Badezimmer betrat.

Nach dem Tod des Gatten, den sie ein letztes Mal lebend im Krankenhaus auf dem Sterbebett gesehen hatte, machte sie sich mit einer geradezu kannibalischen Lust über das letzte Tabu her. Sie eroberte den Schreibtisch und das Arbeitszimmer, warf stapelweise Aufzeichnungen weg und bestellte einen Antiquar, dem sie fast die gesamte Bibliothek zum Schleuderpreis verkaufte. Lediglich einige Bände mit persönlichen Widmungen bekannter Schriftsteller gingen an Sammlungen, und auch der Briefwechsel mit Canetti und einigen anderen berühmten Autoren wurde an Archive gegeben oder gestiftet. Yussufs Schreie aus dem Bad gingen im Abtransport der Bücherregale und Möbel unter. Bald darauf wurde die Wohnung aufgelöst. Die Frau zog mit der Aufforderung an den Sohn, sich endlich selbständig zu machen, in ein winziges Appartement.

Yussufs gelang es wiederum, der Einschläferung zu entgehen. Im letzten Moment fand sich ein frischgeschiedener Finanzbeamter. In dessen Armen verbringt er seither seinen Lebensabend. Während der Mann im Bett liegt und sich mit Videofilmen über seine Einsamkeit hinwegtröstet, rückt Yussuf nahe an ihn heran, und unter regelmäßigem Schnurren schließen sich langsam die Nickhäute über den türkisfarbenen Augen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen