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die stimme der kritikBetr.: Der Schrecken ist schneller

Als ich im Sterben lag

Ich liege auf einer Bastmatte, bin etwas matt, fühle mich aber fast schwebend. Vor mir steht ein Tellerchen eingeweichter Getreidekörner, meine Tagesration. Das Wasser ist sorgfältig gefiltert, die Körner stammen aus biologischem Anbau, aus einem Gutshof im Brandenburgischen. Das Gut gehört dem begüterten Herrn, bei dem ehedem die taz gedruckt wurde. Dort wird von einem Heer arbeitsloser Intellektueller die Produktion einer täglichen, skrupulösen Kontrolle unterzogen. Leise, Kräfte sparend, drücke ich auf die Tastatur des Laptops.

Längst sind die Tage dahin, als ich noch Wachträumen nachhing von ausufernden Gelagen, wie sie Bohumil Hrabal in „Ich habe den englischen König bedient“ beschrieb: ein Kamel am Riesengrill, gefüllt mit einem Rind, dieses wiederum gefüllt mit einem getrüffelten Schwein, darin verborgen weitere lecker zubereitete Klein- und Kleinsttiere, alles in riesigen, dünnen Tranchen konsumierbar. Solche wirren Träume sind leider längst ausgeträumt.

Dunkel entsinne ich mich noch einer nationalökonomischen Vorlesung, in der der Professor, ein bayerischer Witzbold, das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen an Hand des ersten beglückenden Schlucks Biers aus der Flasche beschieb, dem immer weitere folgten, die immer weniger Vergnügen bereiteten. Damals und dort war auch die Rede von der Grenzrate der Substitution, sprich, bis zu welchem dunklen Grenzbezirk ich ein Produkt durch ein anderes ersetzen kann, ohne jedes Gefühl für das Produkthafte an sich einzubüßen.

Jetzt habe ich den letzten Schlagbaum erreicht. In fernen, kaum noch erinnerten Tagen ersetzte ich einfach deutsches Rindfleisch durch jenes edle aus dem Charolais, denn es galt, das ehrliche Bekenntnis der Franzosen zum Rinderwahn zu honorieren. Dann wechselte ich unter Auslassung des Schweins zum Huhn hinüber, zu den goldgelben, maisgefütterten Brese-Hühnchen, von dort – ein qualitativer Sprung – zu den Zucchini-Puffern, den herrlich braun gebrannten. Aber stets riefen neue Schreckensnachrichten, kaum dass ich in eine neue Substitutionsstufe übergewechselt war, höhnisch: „Wir sind schon da!“

„Der Mensch ist, was er isst.“ Indem wir uns zuerst von tierischer, dann aber auch zunehmend von (irgendwie verunreinigter) pflanzlicher Nahrung befreien, schütteln wir die Reste unserer tierischen Vergangenheit ab. Leichtfüßig schreiten wir dahin. Wir sind rein und leer. CHRISTIAN SEMLER

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