Betr.: Cläre Derfert-Casper

Als ich frühmorgens am 9. November unseren Arthur Schöttler aufstöberte, weckte ich ihn mit den Worten: „Steh auf, Arthur, heute ist Revolution!“ Er glaubte zu träumen. Erst als ich ihn nochmals rüttelte, riss er die Augen auf und sagte: „Mensch, Cläre, bist du’s?“ Er sprang schnell in die Hosen, und nach zehn Minuten waren wir aus dem Hause. Schon zur ersten Schicht standen wir beide vor der Waffenfabrik und verteilten unsere Flugblätter, in denen die Arbeiter aufgefordert wurden, um neun Uhr die Betriebe zu verlassen. Nachdem wir unseren Auftrag gegen sieben Uhr erfüllt hatten, gingen wir in ein Lokal in der Erasmusstraße. Dort halfen wir schnell den anderen Genossen die Revolver auspacken und die Patronen in die Magazine füllen. Endlich waren alle Waffen ausgegeben, und nun ordnete sich der Demonstrationszug. Voran die bewaffneten Männer, dann die unbewaffneten und dann die Frauen. Ohne auf Widerstand zu stoßen, marschierte unser Zug die Kaiserin-Augusta-Allee entlang zur Schlossbrücke. Entwaffnet und besetzt wurden ohne einen Schuss die Polizeiwache, die Gaswerke, alle Betriebe, die Lazarett- und Schlosswache, das Rathaus Charlottenburg und die Technische Hochschule. Unser Zug zählte längst Tausende von Menschen und endete gegen Mittag am Reichstag, wo wir mit anderen Zügen zusammentrafen. Längst hatte ich Arthur aus den Augen verloren. Andere Genossen und Freunde begegneten uns. Umarmung, Jubel. Ich war am Ende meiner Kräfte, saß auf den Treppenstufen des Reichstags, bis sich die Menge verlaufen hatte, und fuhr in der Dunkelheit todmüde, aber glücklich nach Hause.

Cläre Derfert-Casper, Arbeiterin, Führungskreis der Revolutionären Obleute, über den 9. November