Besuch im Holstentor: Das schiefe Tor von Lübeck
Die Nazis haben versucht, das Holstentor zum Zeichen nordischer Wehrhaftigkeit zu machen und umgebaut. Und zwar so, dass einem schwindlig wird.
Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, findet es recht stattlich und ist selbst als Zugereister stolz darauf. Lang aber ist’s her, dass man den Innenraum betrat, das Stadtmuseum von 1950. Umso dringlicher, es nachzuholen. Und da kann man gleich anfangen über die schmale, steile Wendeltreppe nach oben zu kraxeln.
Oben, das ist das erste Ausstellungsgeschoss mit fünf Fässern samt drehbaren Infoscheiben, die an Jahresringe erinnern. „Fernhandel“ lautet ihr Thema, und merkwürdigerweise werden nur drei der vier einstigen Hansekontore genannt – Brügge, Bergen, London, eines pro Fass. Statt des vierten, „Nowgorod“, hat man allerdings „Russland, Baltikum, Preußen“ geschrieben und noch ein Fass für „Lüneburg und Schonen“ dazugestellt. Von im- und exportiertem Stockfisch, Tuch, Pech und Pelzen erfährt man hier. Von der Wand baumeln Säcke, damit man sich echt „fernhandelsmäßig“ fühlt.
Eine konzeptuelle Dopplung
Ein bisschen zusammengewürfelt wirkt das Ganze, und wenn man die nette Dame vom Tresen fragt, ob sich das nicht doppele mit dem Hansemuseum nahebei, schwört sie Stein und Bein, dass hier sei ein völlig anderes Konzept. Später ruft ihre Chefin an und sagt, natürlich sei das eine Doppelung, und bei der nächsten Sanierung werde das geändert.
Aber wie auch immer, ein bisschen mittelalterlich wird einem schon zumute in dem Backsteingemäuer mit Kanonen und Gewehren in den Schießscharten. Nur dass von hier nie ein Schuss fiel und dass diese Waffen nichts mit dem Holstentor zu tun haben. Aber da es nun mal zur Stadtverteidigung gedacht war, fühlte man sich wohl verpflichtet, eine Handvoll Waffen hineinzugeben.
Es sollte schon mal abgerissen werden
Außerdem kann man dankbar sein, dass das Tor überhaupt noch steht: Mit einer Stimme Mehrheit entschied Lübecks Rat 1863, es nicht abzureißen, obwohl es schon eine Ruine war und dem geplanten Bahnhof im Wege stand. Genüsslich haben Tourismus- und Süßwarenindustrie das Tor seither zum Wahrzeichen gemacht. Im Café gegenüber wird es gar als riesiges Marzipanmodell feilgeboten.
Dabei ist die jüngere Vergangenheit des Tors gar nicht so appetitlich, wollten die Nazis es doch zur Insigne nordisch-germanischer und speziell Lübecker Wehrhaftigkeit machen, mit Aufmarschplatz und Malereien. Wovon drinnen ein Aquarell Arthur Illies’ zeugt, der Hakenkreuze an die Decke und „Hitlergruß“-Männer an die Wände malen lassen wollte. Irritierend beiläufig steht da, dass dieser Entwurf „nicht umgesetzt“ wurde, als sei das eher bedauerlich.
Auch beim Stadtmodell nebenan wundert man sich über die überdimensionierten Verteidigungs- und Befestigungsanlagen. Dann liest man, winzig an der Wand, dass SchülerInnen dies 1934 bastelten. Da war das NS-Regime auch in Lübeck schon installiert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und als sei weiter nichts gewesen, setzt sich der geleitete Rundgang fort mit dem Thema „Macht“ und erzählt auf einem Bild vom 1363 öffentlich enthaupteten Bürgermeister Johann Wittenborg. Offiziell wegen einer militärischen Niederlage, aber die genaue Urteilsbegründung ist nicht überliefert. Daneben, in schmucker Vitrine, steht (!) ein Richterschwert jener Zeit. Es reicht einem bis zur Hüfte, und dass es nicht das „original Wittenborg’sche“ ist, macht die Sache nicht besser: Frisch auf Hochglanz poliert, scheint es auf den nächsten Delinquenten zu warten.
Überhaupt ging es brutal zu im Lübeck vergangener Zeiten; Streckbank, Daumenschrauben und das Becken für glühende Kohlen, mit denen die Brandmarkeisen erhitzt wurden, sprechen eine deutliche Sprache.
Warum der Raum so hoch ist
Aber genug gegruselt. Steigen wir noch ins Obergeschoss, an dessen Decke allerlei Schiffsmodelle hängen. Warum der Raum so hoch ist? Weil die NS-Granden Zwischenböden herausnahmen, um eine repräsentative Weihehalle zu schaffen. Bei der Gelegenheit haben sie auch das einsturzgefährdete Tor stabilisiert und die Innenböden begradigt. Die stark geneigten Mauern nicht.
Und jetzt versteht man, warum einem die ganze Zeit so schwindlig ist: Weil man gerade steht, aber Schiefes sieht. Das kriegt das Hirn nicht zusammen, und man wankt mit letzter Kraft nach unten.
Puh, geschafft. Da geht man vorerst nicht mehr rein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“