: Berührung ist Mord
■ Über eine Ausstellung des Bildhauers Michael Witlatschil in Köln
Bernd Leukert
Ein Blick - und es stockt einem der Atem. Ein zwei Meter langer, vierkantiger Stahl, unten zugespitzt, steht mitten im Raum auf einer Glasscherbe und rührt sich nicht. Kein Faden oben, kein Leim unten. Steht einfach. Und dennoch ist es nicht nur Respekt vorm Werk, was den Betrachter nur mit äußerster Vorsicht den Zweimeterabstand zum Objekt überschreiten läßt. Hier kann jeden die Erkenntnis treffen, daß Kunst imstande ist, das Leben zu verändern. Das ist der Witlatschil, wird mir flüsternd erklärt.
Daß es nicht der ganze Witlatschil ist, wird mir bald klar. Ich sehe zwei Stelen, die ihre Spitzen einander anzulehnen scheinen. Genau besehen wahren sie aber noch ein Millimeterchen Abstand (Näherung). Ich sehe paarige Stelen im gleichen knappen Abstand, die Beugen und Knicke gemeinsam haben, Paarungen, deren größte Annäherung im oberen Drittel stattfindet. Ich sehe einen runden Stahlstab, der in etwa 30 Segmenten zu einem aufrecht stehenden Kreis geknickt ist (Rückführung), ein anderer steht mit beiden Enden als offener Bogen auf dem Glas. Verschiedene Skulpturen treten in Beziehung zueinander (Konfigurationen). Manchmal ist ein dicker Vierkant einem dünnen aufgepfropft (Das über Dem), oder eine leicht gebogene Stahllatte von imposanter Länge lastet quer auf einem gewinkelten Stämmchen (Modell Stand 3). Gemeinsam ist allen Arbeiten, daß sie über einem winzigen Standpunkt total ausbalanciert sind: Sie ruhen nur auf sich selbst. Asketisch und prägnant.
Die formale Radikalität der Figuren, die dieses merkwürdige Spannungsfeld erzeugt, hat es mir angetan. Ich lese, was man darüber schrieb. Volker Gerhardt etwa fragt sich: Worin liegt die Kunst? Er notiert die technische Perfektion, mit der eine Idee verwirklicht wird, die Sicherheit im Umgang mit dem Material, die Meisterschaft in der Beherrschung der Mittel. Dann aber: „Der ästhetische Gegenstand scheint uns etwas mitzuteilen, das sich nicht eindeutig in Worte fassen läßt; er hat eine Botschaft, die uns berührt, obgleich wir nicht sicher sind, was sie bedeutet.“ Von Kant, auf den er sich beruft, wollte ich mich nicht so hastig einfrieden lassen. So ging ich zum Künstler.
Michael Witlatschil setzt in seiner Werkstatt die Prioritäten: „Daß wir hier miteinander sprechen, halte ich nicht für so wichtig. Ich glaube, daß ich in jeder einzelnen Skulptur viel definitiver das sagen kann, was ich will.“ Dennoch erklärt er sich eloquent und offensiv, mokiert sich über meine Fragen, aber antwortet. „Mein eigentliches Anliegen, formal, metaphorisch, allegorisch, ist die Vertikale. Ich bin ein sehr mißtrauischer Mensch. Ich glaube am ehesten den Naturgesetzen. Sonst glaube ich eigentlich gar niemandem. Und das für mich Spannendste am Naturgesetz ist die Schwerkraft, das, warum wir alle am Boden kleben, warum es uns zieht, was uns aber auch hält. Ich will zum Beispiel keine Kunst der Täuschung. Ich will Magie trotz Transparenz der Mittel: gegen dieses Hollywood-Denken, das hinter jedem Ding einen Trick vermutet. Ein Naturgesetz ist kein Trick.“
Vielleicht gerade deshalb schlägt ihm, wenn er in spannungsgeladenen Performances die schweren Skulpturen errichtet und ausbalanciert hat, massiver Unglaube entgegen: Moment mal! Wieso steht das denn? Ja, stehen die denn immer? Witlatschil: „Wenn sie keiner anpackt, ja. Wenn Erdbeben ist, nein.“ Die aufrechte Figur ist ein Seismograph. Die großen, allgegenwärtigen Erschütterungen aber gehen vom Menschen aus: Herr Witlatschil, sagt eine Frau, schmeißen Sie doch mal eine um, ich möchte gern mal sehen, wie eine hinfällt! - Und tatsächlich sind einige der „Witlatschils“ schon gestürzt worden. „Diese blöden Affen von Menschen“, tobt er, „die das nicht glauben, was sie sehen, und es deswegen anpacken müsen! Die sind ganz so unsensibel wie Bagger oder die Erbauer dieser Schrottsiedlungen. Das virtuelle Bild, das hinter der Skulptur steht, ist ein Bild vom Menschen. Sie ist gefährlich und gefährdet. Das Gefährdetsein ist das Wesentlichere. Das Gefährliche macht es spektakulär und strapaziert unter Umständen auch die Versicherung. In ihrer Gefährdung ist sie Sinnbild einer Befindlichkeit. Sie fußt in der Gegenwart als Sinnbild einer gefährdeten psychischen, unter Umständen auch physischen Situation: des Todes. Wird sie absichtlich umgeworfen, käme das einem Mord gleich. Die Skulptur als erste Ableitung des Menschen verhält sich zum Menschen wie der Mensch zu seiner Gesellschaft. Wenn er der Skulptur gegenübersteht, spielt er sich in dem Moment selbst: als Gefährdeter und Gefährdender zugleich. Wenn nach dem physikbedingten Staunen sich die augenscheinliche Richtigkeit der Sache im Kopf des Betrachters durchgesetzt hat, dann fängt die Arbeit an, in der Dimension zu wirken, in der ich sie haben will, und dort, wo ich sie am liebsten sehe. Ich will bei Gott nicht verhüten, daß die Museen meine Arbeiten kaufen. Aber ich habe sie lieber im Privatbereich, weil dort die Tatsache akzeptiert ist, daß sie frei und gefährdet stehen. Dann arbeitet die Skulptur auch im Bewußtsein, und es entsteht eine Selbstverständlichkeit dieser Gefährdetheit.“
Mit seinen naturgesetzlich selbständigen Skulpturen steht Michael Witlatschil einzigartig in der künstlerischen Landschaft. Kunstexperten haben ihn in eine Traditionslinie mit Rodin und Brancusi gesteckt.
Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ganz und gar gegenwärtig erscheint er mir, jemand, der nicht an der Kunstgeschichte weiterbastelt, sondern mit extremer Ausformung seiner ästhetischen Mittel Einspruch erhebt gegen die Verhältnisse, die er erfährt. Aber dieser Bildhauer, der so gescheit politisieren kann, bezeichnet sich als apolitisch; und als ich ihm mit Zeitgenossenschaft und zeitgenössischer Kunst komme, sagt er ohne Zögern: „Es gibt keine zeitgenössische Kunst. Es könnte stimmen, daß eine Kunst, die in einfacher Weise die Wirklichkeit spiegelt, am leichtesten Erfolg hat, am leichtesten verkaufbar ist. Das wäre die schlechteste Kunst, die entstehen kann. Wenn Kunst einen Sinn hat, dann glaube ich, daß sie überzeitlich ist. Sie müßte auch in ihrer Intention darauf ausgehen, sich über die Zeit, in der sie entsteht, hinwegzuheben, nicht unbedingt, ihr zu entfliehen, aber doch zumindest sich so zu formulieren, daß sie diese Zeit auch überleben kann, so daß, wenn alle Zeiten sich ändern, das in der Zeit entstandenen Werk immer noch seine Bedeutung hat - und zwar in ihrem Kern: eine denotative Kunst. Das geht von der Prämisse aus, daß die Menschen in ihrem Streben, in ihrem Kern sich nicht verändern und so eine kernhafte Kunst immer noch wahrnehmen können. Letztlich stehen sich immer die Kerne gegenüber.“
Ich gebe zu, das hatte ich nicht erwartet. Daß der Bildhauer Witlatschil, Jahrgang 1953, an eine überzeitliche Kunst glaubt, die sich auf einen unveränderlichen menschlichen Kern stützt, bestürzt mich. Was für Schurkerei und Unmenschlichkeit akzeptiert er da? Doch als ich ihn frage: „Irgendwann sind alle wesentlichen Kerne gestaltet. Und alles andere wäre Wiederholung?“, stößt er das Türchen zur Utopie auf: „Ich glaube, manche Dinge müssen so lange und so oft wiederholt werden im Hinblick auf die Tatsache, daß man sie eigentlich deswegen andauernd sagt, weil man sie nie wieder sagen will, also darauf hinarbeitet, daß eine Welt, in der der Begriff 'Ausbeutung‘, 'Niedertracht‘, 'Völkermord‘ seinen Sinn verliert, ja geradezu kein Denotat mehr habe, nicht mehr existierte - eine Vorstellungswelt, Sprachwelt, Sinnwelt: Das ist natürlich interessant und erstrebenswert. Vielleicht muß man deswegen so lange über solche Denotate reden oder sie permanent wiederholen, die auf die Vernichtung ganz bestimmter Begriffsfelder zielen, bis sie endlich weg sind.“
Das Aufrechte führt das alternative Begriffsfeld mit sich: den aufrechten Gang, das aufrechte Wesen, den aufrechten Geist, die Unkorrumpierbarkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Utopie. Im Kontext mit Michael Witlatschils Objekten ist es an unumstößliche Bedingungen gebunden. Sie werden erst zu Skulpturen, wenn sie stehen, und sie bleiben (ohne Beben) Skulpturen, bis sie angetastet werden. Sie sind im Wortsinne integer (lat. unberührt, noch freistehend). Sie haben keine Möglichkeit, sich gegen einen Angriff zu wehren. Denn ihre einzige Reaktion darauf ist ihre letzte: der Fall.
Notwendigerweise unterhält der Künstler zu ihnen eine besondere Beziehung. Auf die verschärfte Fürsorge, die er ihnen angedeihen läßt, verpflichtet er auch ihre Käufer. „Ich habe einerseits nichts dagegen, die Sachen zu verkaufen, bin auch ganz froh, wenn die wo sind, wo sie auch angenommen werden und mit ihnen gearbeitet wird. Aber ich merke, jedesmal, wenn ich eine Arbeit verkaufe, werde ich depressiv. Regelmäßig. Ich sitze dann ein, zwei Tage herum und bin völlig niedergeschlagen. Und da mich das überfällt und ich mir das nicht erklären kann, kann es nur damit zusammenhängen, daß ich etwas verloren habe. Vielleicht ist es so: Erwachsene Kinder müssen aus dem Haus.“ Als ich ihm vorschlage, die Kinder nur zu verleihen, lehnt er kategorisch ab: „Ich muß ja von was leben! Die sollen schon mein Leben finanzieren. Skulpturen als Kinderarbeit! Wie das im Mittelalter auch war: Je größer die Familie war, die für die Alten arbeitete, desto besser konnten sie leben. So ist das auch. Und dann Michael, ein ganz mittelalterlicher Mensch, ein gotischer Mensch, der ein gutes Verhältnis zu Kathedralen hat: hoch aufstrebend und mit Schinderei erbaut. Das ist schon in Ordnung.“
Es ist kein Zufall, daß jetzt die Kölner Galerie Jöllenbeck im großen „BilderStreit“ mit Michael Witlatschils poetischen Evokationen des integren Menschenbildes argumentiert. Der freistehende Winkel Stand 38 - Schekel ist da zu sehen und eine neue und überraschende Arbeit, die Konfiguration /angesichts/. Es ist das erste Mal, daß Michael Witlatschil mit erweiterten Mitteln einen Kontext inszeniert. Die drei Stationen angesichts des Brunnens, angesichts des Schlosses und angesichts des Endes sind aus dem Märchen Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich herausgelöst, aus den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. Aber mit den Zeichnungen, den balancierenden Stahlkugeln, dem Spiegelglas, dem Knochen und dem Kupferstab wird nichts erzählt. Die Reflexion, die sich da manifestiert, berührt unsere Haltung. Und die ist im Kopf.
Michael Witlatschil: Skulpturen, Köln, Galerie Witlatschil; bis zum 16. Juni
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