Berliner Szenen: Im Schaufenster
Gewöhnste dich dran
Ich sitze bei einer kleinen Lesung in einem ehemaligen Laden mit riesigem Schaufenster zur Straße. Grad mal sieben Gäste sind da: sechs Frauen, ein Mann, aber der hat lange Haare. Ein bisschen langweilig ist es, muss ich mal sagen. Aber aufstehen und gehen ist leider nicht drin, denn bei so wenigen Leuten im Raum fällt das doch irgendwie auf. Aber zur Straße hin drehen kann ich mich. Vielleicht ist ja draußen mehr los.
Draußen laufen Leute vorbei. Manche bleiben stehen, schauen kurz zu uns rein. Ist wohl auch draußen langweilig.
Und dann plötzlich steht einer da vor der Scheibe, der nicht nur kurz dableibt und guckt, sondern recht lange. Er mustert uns, und als er merkt, dass wir fast nur Frauen sind hier drin, stört ihn das irgendwie. Er klopft an die Scheibe, so drängend und laut, dass alle sich zu ihm umdrehen. Und dann legt er sich zwei Finger an den Mund und streckt seine Zunge hindurch. „Lesben!“, signalisiert er damit, leckt gleich noch mal, dann grinst er, winkt und geht weiter.
Ich verdrehe die Augen; wir alle verdrehen die Augen. Alle Frauen, heißt das. Der Mann dagegen, der einzige unter uns, ist schockiert. „Hat er da grade …“, fragt er. „Also!“ Er findet kaum Worte.
Wir nicken gelangweilt, wir Frauen. Wir kennen das schon. „Hat er.“
„Aber“, sagt der Mann und schüttelt den Kopf. Fast tut er mir leid. Ich fand’s auch krass, das erste Mal, dass mich wer so angeleckt hat. Aber mittlerweile …
„Gewöhnste dich dran“, will ich sagen, aber dann fällt mir ein, dass er das nicht nur zum ersten Mal sieht in seinem Leben, sondern bestimmt auch zum letzten Mal. Männer werden nicht angeleckt normalerweise, selbst wenn sie lange Haare haben. „Tja“, sag ich also statt „Gewöhnste dich dran“ und zucke mit den Achseln. Wir alle zucken mit den Achseln. Und dann geht die Lesung weiter, einfach so, als wäre nichts gewesen. Ist aber immer noch langweilig, leider. Joey Juschka
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