: Berliner Sprachlosigkeit
Finanzsenator Sarrazin (SPD) findet im Abgeordnetenhaus keine ausreichend drastischen Adjektive für die Finanzlage. Selbst der Opposition verschlägt es bei der ersten Haushaltslesung jede Rhetorik.
von ROBIN ALEXANDER
Gemeinhin gilt das Wort als scharfes Schwert im politischen Kampf der parlamentarischen Demokratie. Von wegen: Berlins zur Zeit bestgehasster und meistgefürchteter Politiker ist der schlechteste Redner dieser an schlechten Rednern nicht armen Stadt. Das bewies Thilo Sarrazin, Finanzsenator, gestern im Abgeordnetenhaus. Und: Es ist ihm völlig gleichgültig.
Das Berliner Parlament verhandelte in erster Lesung einen Doppelhaushalt für die Jahre 2002 und 2003. In diesen beiden Jahren sind Einsparungen von 760 Millionen Euro vorgesehen. Von den 390 Millionen die beim Personal eingespart werden sollen, hängen 250 Millionen an einem ehrgeizigen bis unwahrscheinlichen Solidarpakt mit der störrischen Gewerkschaft Ver.di. Bei den Sachausgaben wollte Sarrazin eigentlich fast das Doppelte herausholen. Trotzdem stöhnt die Stadt an allen Ecken und Enden. Genug Gründe für Finanzsenator Sarrazin also, seine Politik zu erklären.
Sarrazin hat seit seiner Kindheit einen schweren Sprachfehler. Dieses Handicap überbrückt der in Recklinghausen Aufgewachsene mit der im schnellen Ruhrpott-Zungenschlag gesprochenen Formel „Ich sach’ mal“, die sich immer wieder in seine Sätze schiebt. Ichsachmal klingt relativierend und führt in die Irre: Sarrazin meint exakt, was er sagt. Kein Jota will er zur Disposition stellen. Nicht einmal die Länge seiner Rede , die er urlaubend im Schweizer Skiort Saas-Fee verfasste und für eine volle Stunde konzipierte. Das der Ältestenrat ihm nur 20 Minuten Redezeit zubilligt, ficht ihn nicht an. Was er beim Vortrag nicht schafft, so ein Sprecher, stehe „als Grundsatzdokument“ im Internet.
Ein Mann der Zahlen ist Sarrazin. Deren vermeintliche Exaktheit und Eindeutigkeit schätzt er. Muss er sich doch mit Worten abgeben, sucht er Klarheit bei kurzen Sätzen und Substantiven. Kein schwammiges Adjektiv soll seine Wahrheiten verwässern. So klingt Sarrazin: „Das Drama eines Haushaltes, der im Wesentlichen von Fixkosten bestimmt wird …“ – oder abweichend von seinem Manuskript: „Viele denken: Der Bund muss doch! Der Bund muss aber nicht. Der Bund darf. Und nur unter bestimmten Bedingungen.“
Jedem im Abgeordnetenhaus ist klar, dass der Umgang mit der katastrophalen Haushaltslage in Zukunft Dreh- und Angelpunkt aller Berliner Politik sein wird. Aber die Abgeordneten hören Sarrazins Vortrag emotionslos. Keine Zwischenrufe. Keine Empörung. Nur ein Pflichtapplaus zum Schluss. CDU-Fraktionschef Frank Steffel schiebt sich ein Stück Alpenmilchschokolade in den Mund und lässt den haushaltspolitischen Sprecher Nicolas Zimmer reden. Der bezweifelt Sarrazins „Datenkranz“, verweist auf das „Damoklesschwert Bankgesellschaft“, das weiter jeden Haushalt bedrohe und prophezeit dem Senat, er müsse bald einen Nachtragshaushalt nachschieben. Zimmer ist jung, seriös und bei der Sache. Aber was würde er substanziell anders tun? Auch den Redner von FDP und Grünen fehlt sowohl der große alternative Entwurf zur Sparpolitik als auch die griffige Metapher, um Sarrazin zu attackieren. Die PDS, die in den vergangenen Jahren mit Harald Wolf den leidenschaftlichsten Haushaltspolitiker hervorbrachte, versteckt sich heute hinter dem Rücken ihres Koalitionspartners. Sowohl der Finanzsenator als auch seine Kontrahenten sind sich einig: In Zunkunft reicht „systemimmanentes Sparen“ nicht mehr. Berlin stehen strukturelle Einschnitte bevor. Ein Sarrazin-Vertrauter sagt das so: „Wer heute glaubt, wir würden schon hart sparen, der irrt sich. Die eigentlichen Sparmaßnahmen stehen noch bevor.“
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