Berliner Platte : Zwitschernd, tirilierend, maunzend, krächzend und tremolierend wift sich Janine Rostron in die schönsten Out-of-mind-Posen
Es ist hinreichend bekannt, wie die Herren Mediziner sich das vor noch gar nicht so langer Zeit mit der Hysterie vorstellten: Eine Gebärmutter, die nicht ständig mit Sperma gefüttert wird, macht sich auf die Suche nach selbigem, wandert durch den Körper und beißt sich schlussendlich im Gehirn fest. Das Gehirn kommt damit aber nicht so gut klar und lässt den weiblichen Körper heulen, zittern, schreien und zähneklappern und schon geht’s ab in die Klinik mit der Furie. Hätten die Herren damals Janine Rostron aka Planningtorock gehört und gesehen, sie hätten sie sofort in die Salpetrière gesteckt. Auf der Bühne stülpt sich Rostron Masken übers kalkweiße Gesicht und wirft sich in ihren unförmig pludrigen Hospitalsklamotten in die schönsten Out-of-mind-Posen. Ihr Gehirn ist sogar schon gänzlich aus ihr heraus gewandert, so dass sie es auf einem Stecken aufgespießt mit sich trägt. In ihren Videos bringt sie sich, wie ein Mandelbrot’sches Apfelfrauchen ständig selbst hervor – und singt dann in Stimmen. Über die verfügt sie zu Abertausenden. Pressstimmen, Kopfstimmen, Bassstimmen, Kreischstimmen. In einem geschätzten Vier-Oktaven-Spektrum zwitschert, tiriliert, maunzt, krächzt und tremoliert sie, ist gute Fee und Schwarzmagierin und vom Kruzifix bedrohtes Vampirmädchen, ein ganzer Kirchenchor und Operndiva, manchmal PJ Harvey und manchmal Marc Bolan. Ihre Stimme macht den Rhythmus, die Flächen, macht den vierstimmigen Leadgesang und sämtliche Backgroundvocals. Was sie sonst noch braucht, um ihr Debütalbum zu einem wahnwitzig tollen zu machen: Häckselnde Pizzicato-Streicher, Brass-Band-Klänge, ein Xylofon, die Off-HiHat und hin und wieder einen T.Raumschmiere-Bratzbass. Und Texte, die einprägsam aufrufen, nichts zu wollen, was du nicht willst, girl! Janine Rostrons Musik schmeißt Boller-Rock, Marsch, Walzer, High Energy und Minimal Music zusammen zu einem symphonischen Webstück, das fast ein bisschen kategorienlos ist. Ob jetzt vor allem Pop oder Kunst oder Performance, das lässt sich nicht restlos klären. Am besten fährt man wahrscheinlich, wenn man „Have It All“ zur herrlichsten Ode an Hector Berlioz’ „Symphonie Fantastique“ erklärt – genug Träumerei, Kostümball, Richtplatz und Hexensabbat ist allemal drin. Aufgenommen und produziert hat Rostron das Album in Eigenregie in ihrer Kreuzberger Wohnung. Hier lebt sie, die als Kind Geige gelernt und an der Kunsthochschule von Sheffield studiert hat, seit vier Jahren – in der wahrscheinlich produktivsten Künstlerblase, die die Stadt derzeit beherbergt: Das Netzwerk um sie, Kevin Blechdom, Mocky, Taylor Savvy, Heidi Mortenson und Jamie Lidell. Musik hat sie anfänglich nur gemacht, um ihre Videos mit Soundtrack zu versehen – und schon tourt sie als heißester Chicks-On-Speed-Act durch die Welt. Aber wie sie in ihrem fulminanten Stück „Changes“ so schön singt: „I am changing, and I don’t know why, but I like it“, weil eins ist sicher: „I’m gonna get what I need.“ Und ob sie’s braucht oder nicht: Kniefälle sind angebracht.
Kirsten Riesselmann