■ Berlinale-Anthropologie: Unsere kleine Stadt
...Zum ersten Mal das Kino International besucht, in der Karl-Marx-Allee, ein modernistischer Bungalow – „Banschelo“ sagte man in Spangenberg – im Stil der fünfziger Jahre, bei dem das erste Geschoß das Parterre weit überragt. An der Längsseite studiere ich ein Relief in Weiß; es zeigt die befreite Menschheit bei Arbeit, Sport und Kultur. Rechts daneben jetzt „Albert's“, ein Café-Bar-Restaurant-Kombinat, das am frühen Nachmittag noch wenig Gäste frequentieren. Ich studiere durchs Fenster einen jungen Fettsack in Hellblau, der mit gezücktem Zeigefinger auf ein schüchternes Gegenüber einteufelt: Immobilienzwerghai, sagen meine Vorurteile, ostig, ist bei weitem noch nicht soweit, wie er sich fühlt. Sein ganzer Stolz: der Banschelo am Krüpelsee...
Zuweilen heftige Durchbrüche von Sonnenschein. Im Innern umgibt das Kino International seine Besucher mit reichlich Holz. Und der Treppenaufgang vom unteren Foyer zum Saal gestaltet sich als Aufstieg ins Licht: der Sozialismus glaubte halt so intensiv ans Kino wie sonst nur Kurt Scheel und ich (freilich an ein anderes). – Das obere Foyer die bekannte Wartehalle mit roten Sitzgruppen. Unter der Decke aufwendige Lüster, die abends das bekannte Augenermüdungsgefühl in Sitzhöhe erzeugen.
Gern würde ich behaupten, vornehmlich der Ostler sei zur Kim-Novak-Retrospektive erschienen. Doch finden sich neben dem bekannten Vorruheständler im pludrigen, heftig gemusterten Pullover auch ältere Lederkerle, englisch sprechend, streng schwarze Dämchen, durch alles hindurchschauend, kurzum: die Menschheit, wie sie das Kino ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Geschlecht, Lebensalter, Nationalität versammelt.
„Picnic“ gab's, von Joshua Logan (1955). William Holden kommt als Hobo in unsere kleine Stadt, zeigt angelegentlich seinen „schönen Oberkörper“ (Horst Königstein), diesmal wieder glattrasiert, nimmt Cliff Robertson, aus der reichsten Familie unserer kleinen Stadt (in Spangenberg damals Salzmanns), das Mädchen weg und zieht nach Tulsa weiter (wohin sie ihm folgt), statt sich hier bei uns niederzulassen, wie er es vorhatte.
Kim Novak macht das Mädchen, das am Ende in den Überlandbus steigt. Horcht man in den Echoraum des allgemeinen Kinowissens hinein, man erfährt nichts Gutes über sie, mißlungenes Marilyn-Imitat, hilfloses Chargieren – dreißig Jahre später hätten Manta- und Blondinenwitze über sie kursiert. Aber am Ende, als die Menschheit in den späteren Nachmittag der Karl-Marx-Allee wieder hinaustrat, war ich gerührt.
Stets treiben mir Filme, in denen wir sommers Abschied von unserer kleinen Stadt nehmen müssen, die Tränen in die Augen. Und dann ist es so deutlich die kleine Stadt der Fünfziger: als in westdeutschen Theatern Thornton Wilders Stück, das „Our Town“ als die Menschheit vorstellt, ein großer Erfolg war. Deshalb war ich auf das Kino International erpicht, das, wie der Sozialismus insgesamt, den Stilwillen der Nachkriegszeit so getreu bewahrt. Hatte nicht auch der Sozialismus sich im Grunde die befreite Menschheit als unsere kleine Stadt im Sommer vorgestellt, zum Picknick am Fluß versammelt? Aber man muß, wie Logans Film zeigt, unsere kleine Stadt verlassen können, und das wollte der Sozialismus unmöglich glauben.
Kim Novak kommt gut als humanistische Kleinstadt-Belle, viel freundlich-scheues und zugleich ausdrucksstarkes Fleisch, „fraulich“ nannte man das damals mit einem inzwischen völlig untergegangenen Wort, auf das freilich auch die weiblichen Stars des zeitgleichen Sowjetkinos zielten. Dabei grundiert das Muttihafte von Novaks Fleisch echter Sex-Appeal, eine ödipale Lockung geht von ihr aus, die Hitchcock in „Vertigo“ mit Sadismus beantwortet hat, wo das enge graue Kostüm das Fett der Novakhüften zugleich zusammen- und herauspreßt.
Wahrscheinlich war das, im Sinne des Humanismus, eine fortschrittliche Idee, die Kim- Novak-Retrospektive. Babette jiepert schon auf die Pressekonferenz mit der 64jährigen – über Babette aber ein andermal. Michael Rutschky
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