: Berlin & ich (2)
„Ey, da musste hin! Da jehted ab! Dit is’ne Jroooßstadt, vastehste?“ – Was habe ich sie gehasst, diese Apostel der Hauptstadt, ihren fix antrainierten Zungenschlag, das metropolitane Glänzen in ihren Augen! Leuchtreklamen für ein Lebensgefühl, wie es in dieser Republik angeblich kein zweites gibt. Biste was, biste in Ballin, wa!
Besucher aus Berlin waren stets die Pest, denn sie benahmen sich wie Besucher aus der Zukunft. Da saßen ehemals gute Bekannte im Biergarten und deklamierten mit der Inbrunst religiöser Erweckung plötzlich magisch aufgeladene Begriffe wie „Helmholtzplatz“, „Prenzlberg“ oder „Oranjenstraße“. Sinnlos, mit „Odeonsplatz“, „Haidhausen“ oder „Kaufingerstraße“ kontern zu wollen: Ich erntete nur ein trockenes Husten und den mitleidigen Hinweis: „München ist doch keine Großstadt, München ist ein großes Dorf.“
Dabei ist jede Großstadt ein großes Dorf, was denn sonst? Als ich diese Ansicht einmal in Brooklyn einer weltläufigen Amerikanerin darlegte, stimmte sie zunächst zu: „Sure, sure.“ Doch schnell trat das bekannte Glänzen in ihre Augen, und sie fügte hinzu: „But not Berlin, it’s incredible, it sprawls!“ Soso, Berlin breitet sich aus, so was imponiert also den Amerikanern.
Treffender wäre allerdings: Berlin sucks. Schließlich saugte die Stadt allmählich meine Freunde ab wie der Chirurg mit dem Plastikschlauch unter der Bauchdecke das Fett. Stefan, Verena, Sebastian, sie alle zogen bald nach … na? Genau, es war zum Heulen. Bis es mich dann selbst nach Berlin saugte, rein beruflich, man muss ja flexibel sein. Raus aus der bürgerlich glasierten bayerischen Gemütlichkeit mit ihren majestätischen Springbrunnen, rein in einen abgewirtschafteten Moloch, der seine Brunnen abstellen muss, weil er sich das Wasser nicht leisten kann.
Berlin ist ein planlos wucherndes, vernarbtes Konglomerat riesenhafter Dörfer, all rolled into one. Wie Bombay. Oder Lagos. Ein tektonischer Ort, wo Trümmer sich über Trümmer türmen und die kontinentale Drift der Dinge sichtbar wird. Speers traurige Laternen an der Straße des 17. Juni. Kühlschränke, die zum Ausmisten einfach auf die Straße gestellt werden. Schinkels Museen mit ihren Einschusslöchern. Graffiti wie soziale Sedimente: „Frauenlesben, bildet Banden!“ Und von den umzäunten Brachen dazwischen weht einem der märkische Sand in die Augen. In die Luft gucken und flanieren lässt es sich im Winter übrigens besser als im Sommer, weil dann die allfällige Hundescheiße gefroren ist.
„Ach Gott, herrlich“, rief meine Oma am Telefon, als ich ihr von dem Umzug erzählte: „Ich wohne in Neukölln.“ – „Aha. Wo denn da?“ – „Beim Kottbusser Damm, das kennst du wahrscheinlich nicht.“ – „Und ob! Das ist doch dort, wo nachts die leichten Mädchen an der Straße stehen, hihi!“ Sie sagte wirklich „hihi“. Ich schwieg irritiert. „Na, wo diese ganzen … Etablissemengs sind!“, beharrte meine Oma. Woher wusste sie, bitte schön, von den Puffs in meiner Nachbarschaft? „Weil ich dort eine tolle Zeit hatte. Bevor ich deinen Opa kennen lernte. Warst du schon am Potsdamer Platz? Ist das nicht herrlich, dieses Gewimmel, diese riesigen Gebäude dort?“ – „Oma! Das kannst du doch gar nicht wissen, das ist doch alles ganz neu! Und wann warst du denn bitte schön das letzte Mal in Berlin?“ – „Zweiundvierzig,“ sagte sie, „als Straßenbahnschaffnerin, mit dem Bund Deutscher Mädel. Da musste man hin. Da ging’s ab. Das war eine Groooßstadt, verstehst du?“ Und da verstand ich.
ARNO FRANK
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