: Berlin: Zwei Länder in einem
Die Regierungsbildung in der politisch immer noch geteilten Hauptstadt ist eine Entscheidung zwischen Ost und West, nicht zwischen links und rechts
aus Berlin RALPH BOLLMANN
Merkwürdig: Für die Hauptstadt hat sich nie jemand interessiert. Munter schreiben die Kommentatoren seit elf Jahren über die „fünf neuen Länder“ oder analysieren die Haltung „der westlichen Ministerpräsidenten“. Berlin (Ost) und Berlin (West), die heimlichen Bundesländer Nummer sechzehn und siebzehn, haben sie dabei immer vergessen.
Die Wahlforscher behandeln eine Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus noch immer, als fänden an der Spree zwei getrennte Landtagswahlen statt. Und die Ergebnisse vom Sonntag zeigen mehr denn je, wie Recht sie damit haben: Die Resultate in den beiden Stadthälften klaffen bei jeder Wahl weiter auseinander – am krassesten bei der PDS, die im Ostteil der Stadt von 23,6 Prozent im Jahr 1990 auf nunmehr 47,6 Prozent anstieg. Im Westen kam sie nur auf 6,9 Prozent, und das feiert sie schon als Erfolg. Umgekehrt ergeht es der CDU, die mit 12,4 Prozent in den östlichen Bezirken auf das Niveau einer Kleinpartei herabsank, während sie im Westen immerhin 30,8 Prozent erreichte. Gewiss: Das Wahlverhalten ist auch sonst in Ost und West verschieden. Nur: Die Berliner Landespolitiker müssen daraus eine gemeinsame Regierung zimmern.
Zum ersten Mal gibt es in Berlin auch theoretisch keine Koalition mehr, die in beiden Stadthälften gleichermaßen eine Mehrheit hätte. Früher wäre das ein Bündnis von CDU und PDS gewesen. Nur gemeinsam könnten die Partei des Westens und die Partei des Ostens die innere Einheit vollenden – davon träumte zuletzt sogar Exbürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Dazu kommt es nicht mehr. Den Alleinvertretungsanspruch für den Westteil der Stadt hat die Union verloren. Auch dort wurde sie von den Sozialdemokraten überflügelt.
Zugleich ist die SPD die Partei, deren Ergebnisse in den beiden Stadthälften am dichtesten beieinander liegen – mit 33,7 Prozent im Westen und 23,2 Prozent im Osten. Für sie ist die Wahl zwischen Ampel und Rot-Rot weniger eine Frage von links oder rechts als eine Entscheidung zwischen Ost und West. Eine Senatsbildung mit FDP und Grünen wäre ein Votum für den Westen – dort kommen die drei auf zusammen 57,6 Prozent, während sie im Osten nur 34,3 Prozent aufbieten. Ginge die SPD dagegen mit der PDS, hätte die Koalition stolze 70,8 Prozent der Ostberliner Wähler hinter sich – aber nur 37,7 Prozent der Wähler im Westen.
FDP und Grüne sind nicht weniger westlich geprägt als der frühere Koalitionspartner CDU. Wohin das führt, konnten die Ostberliner in den vergangenen Jahren erleben: Als einzige Bewohner der früheren DDR waren sich nicht einmal auf der Ebene der Stadt- oder Landespolitik politisch vertreten. In der großen Koalition kam von 28 Senatsmitgliedern – Bürgermeister, Senatoren und Staatssekretäre zusammengerechnet – zuletzt nur ein einziges aus dem Osten: die Arbeitssenatorin Gabriele Schöttler (SPD), die bei jeder Gelegenheit als unfähige Quotenfrau verspottet wurde.
Doch im westlich geprägten Milieu der Berliner Landespolitik war dieses Missverhältnis nicht einmal ein Thema. Die Amtsträger sahen nur das Regierungsviertel, die schwäbisch unterwanderten Szenebezirke Friedrichshain und Prenzlauer Berg – und hielten die innere Einheit bereits für vollendet. Die Wahlergebnisse belehren sie eines Besseren. Dass die Grünen die Fünfprozenthürde im Ostteil knapp übersprangen, verdanken sie allein den Zuzüglern in der Innenstadt. Rund um den Kollwitzplatz kamen sie auf mehr als 20 Prozent. In den Plattenbauvierteln am Stadtrand erreichten sie nicht einmal 2 Prozent.
Das neue Landesparlament ist so unübersichtlich wie noch nie: Fünf Parteien, davon keine über 30 Prozent – derart italienische Verhältnisse gab es noch nie, nicht einmal in Hamburg mit der Schill-Partei. Nirgends sonst verschmilzt das ostdeutsche Parteiensystem aus CDU, SPD und PDS mit dem westdeutschen Quartett von CDU, SPD, FDP und Grünen zu einer derart unübersichtlichen Gemengelage.
Nirgendwo? Nicht ganz. Es gibt in Berlin noch ein weiteres Parlament, wo Ost und West in trauter Runde beieinander sitzen – den Bundestag. Und dort könnte Kanzler Gerhard Schröder schon im nächsten Jahr vor ganz ähnlichen Fragen stehen wie sein Berliner Zögling Klaus Wowereit. Deshalb ist es gar nicht merkwürdig, dass sich die Bundespolitiker plötzlich ganz brennend für ihre Hauptstadt interessieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen