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Bene Tibi: Christian Marzahns Erzählungen aus dem Bremer Ratskeller (13)

Der letzte Teil jener seltsamen Geschichten, die sich um den Geist des Bremer Ratskellers ranken. Christian Marzahn hat sie aufgeschrieben, als persönliche Vision, die er als „eine Miniature aus meinem Tagebuch und anderen bremischen Dokumenten“ festhielt. Der von ihm hinterlassene Text wird unter dem Titel „Bene Tibi“ in der Edition Temmen erscheinen.

Nun kommt ein kleiner Mann hereingetrippelt, erblickt mich und meine Kerzen und kommt geradewegs an meinen Tisch: „Wo kommen Sie denn her?“, fragt er mich. Offenbar hat man weder ihn noch die anderen von meiner Sonder-Erlaubnis und meinem einsamen Besuch unterrichtet. Kein Wunder, daß meine Präsenz diese Geister des Morgen-Grauens verwirrt.

„Wieso haben Sie denn neun Kerzen auf Ihrem Tisch, und nicht sieben?“ Ich stutze. Worauf will er hinaus? Aber ohne meine Antwort abzuwarten, mit einem kurzen Blick auf meinen Kalender, fügt er hinzu: „Jetzt beginnt ein neues Jahr – im hebräischen Kalender.“ Dann geht er weg. Aber ich habe sie gesehen: die tätowierte Nummer auf seinem linken Arm. Zum zweitenmal in dieser Nacht sitze ich erstarrt. Ich muß ihn fragen, wenn er zurücckommt. Aber darf ich ihn fragen?

Es schlägt halb sieben. Draußen ist es hell geworden; Tageslicht fällt schmutzig durch die Fensterschächte. Wieder kommen Schritte durch die Halle – eine Schwarz-Afrikanerin. Auch sie mustert meinen Kerzentisch und mich erstaunt. Ich warte auf den kleinen Mann, aber nicht er kommt zurück, sondern zwei von den Frauen. Sie schieben ein Putzwägelchen, beladen mit den entsprechenden Utensilien. Hinter ihnen dann der kleine Mann. Ich nehme das Gespräch von vorhin wieder auf. Es ist so. Er ist Jude. Die Nummer auf seinem Arm stammt aus Auschwitz. Als Schüler wurde er verhaftet, 1945 befreit. Jetzt ist er siebzig. Von seinen 700 Mark Rente kann er nicht leben. Seit zehn Jahren arbeitet er nun schon im Bremer Ratskeller. – Während des Golfkrieges sagte ein Arbeitskollege in seinem Beisein, jetzt werde endlich der Rest vergast. Niemand, berichtet der kleine Mann, habe etwas dazu gesagt. Mit seinen kleinen Schritten geht er hinüber in die Große Halle.

Ich räumte meine Sachen zusammen, löschte die Kerzen und stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf. Die Sonne schien; ich mußte blinzeln. Erleichtert und versonnen grüßte ich hinauf zur roten Nase des Weltgeists. Die Straßen und Plätze waren menschenleer. Behutsam suchte ich meinen Heimweg. Da und dort blieb ich einen Moment stehen, bis sich der Bürgersteig beruhigt hatte. Ich redete begütigend mit Ampeln und Verkehrszeichen, wenn sie zu übermütig auf mich zutanzten, und erzählte ihnen von der Lust und Last dieser Nacht. -Ende

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