: Belgien lahmgelegt
Generalstreik gegen Steuererhöhungen und Lohnstopp / Regierung will Löhne von der Preisentwicklung abkoppeln / Gewerkschaften gespalten ■ Von Alois Berger
Der erste Generalstreik in Belgien seit 1936 soll erst der Anfang gewesen sein. Wegen des großen Erfolges wollen einige der rund 25 verschiedenen Gewerkschaften jetzt jeden Freitag zum Generalstreik blasen. So lange, bis die Regierung nachgibt.
Gestern ging so gut wie nichts mehr in Belgien. Von den Hafenarbeitern in Antwerpen bis zu den Bankangestellten in Brüssel ließen fast alle Belgier die Arbeit ruhen. Schulen und Behörden waren geschlossen, vor den Fabriktoren wachten Streikposten mit roten und grünen Fahnen darüber, daß niemand zur Arbeit ging. Auf den Straßen in Brüssel herrschte Ruhe. Es gab zwar auch ein paar Kundgebungen und Demonstrationen, im wesentlichen aber war es ein stiller Streik. Die meisten Leute blieben zu Hause, allein schon weil alle öffentlichen Verkehrmittel außer Betrieb waren.
Der Streik richtete sich gegen das Sparprogramm der Regierung. Die Koalition aus Sozialisten und Christlich-Sozialen will zum einen Steuern erhöhen und Sozialausgaben kürzen, zum andern das Lohnindexsystem auflockern, was auf einen faktischen Lohnstopp hinausläuft. In den 50er Jahren wurde ein Lohnindex eingeführt, wonach jeden Monat ausgerechnet wird, um wieviel Promille die Preise gestiegen sind, und um soviel steigen dann auch die Löhne. Nun will die Regierung „gesunde Steuererhöhungen“ einführen. Tabak, Alkohol, Benzin, alles was ungesund ist und Spaß macht, wird deutlich teurer. Gleichzeitig werden diese Dinge aus dem Warenkorb herausgenommen, der als Berechnungsbasis für die Lohnkopplung dient. Im Klartext, die Steuerlast für die Haushalte steigt, aber die Löhne gehen nicht mit. Unterm Strich macht das bei der aktuellen Inflationsrate einen Reallohnverlust von knapp 3 Prozent aus.
Die Regierung will damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken, und wie Premierminister Jean-Luc Dehaene vorrechnet, 45.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Vor allem aber hofft sie, zusammen mit anderen Maßnahmen, den Staatshaushalt um 110 Milliarden belgische Francs (5,2 Mrd. DM) zu entlasten. Belgien ist mit einer Staatsverschuldung von derzeit 130 Prozent des Bruttosozialprodukts das relativ zu seiner Wirtschaftskraft am stärksten verschuldete Land der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der Lohn-Preis-Kopplung werden Belgien wenig Chancen eingeräumt, die Hürden für die Europäische Währungsunion zu bewältigen. Die Lockerung des Indexes dürfte der erste Schritt sein.
Das befürchten auch die Gewerkschaften. Wenn das Indexsystem fällt, müssen die Gewerkschaften die Löhne aushandeln. Gespalten in christliche und sozialistische, in wallonische und flämische, in Textil-, Chemie- und Metallgewerkschaften, sind sie für kollektive Lohnverhandlungen schlecht gerüstet. Das hat auch die Verhandlungen mit der Regierung erschwert. Vor allem der Konflikt zwischen den Arbeitern aus den verarmten wallonischen Industrierevieren und denen aus den prosperierenden flämischen Regionen macht die Streikverhandlungen für die Regierung zu einem gefährlichen Balanceakt. Die reicheren Flamen wollen nicht für die wirtschaftlichen Probleme der Wallonen zur Kasse gebeten werden. Über allem schwebt die Drohung der Flamen, Belgien zu spalten.
Einige sozialistische Gewerkschaften haben bereits signalisiert, daß sie sich mit dem Sparprogramm abfinden könnten, wenn einige Punkte abgemildert würden. Auch Premierminister Dehaene hat angedeutet, daß man über Entlastungen für die sozial Schwächeren reden könnte. Bisher sind es vor allem die christlichen Gewerkschaften, die hart bleiben. Am übernächsten Freitag treffen sich in Brüssel die Regierungschefs der Europäischen Union zum Gipfelgespräch, und es wird keinen guten Eindruck machen, wenn wegen eines Generalstreiks nichts funktioniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen