piwik no script img

Beim Demonstrieren sind Berliner einsame Spitze

■ In der Hauptstadt wurde 1996 doppelt so häufig protestiert wie noch im Jahr zuvor

Berlin (taz) – Die Nachricht dürfte umzugsunwillige Bonner Regierungsbeamte noch enger an Reihenhaus und Rhein klammern. Denn erstmals wird Berlin amtlicherseits attestiert, was bislang nur als mediales Ereignis kolportiert wurde: Berlin ist die Protestmetropole Deutschlands. In rekordverdächtiger Höhe trieb es die Hauptstädter im vergangenen Jahr auf Straßen und Plätze: 2.070 Demonstrationen – fast sechs am Tag – vermeldete jetzt die Berliner Senatsverwaltung für Inneres. Eine Verdoppelung gegenüber 1995 mit 1.008 Demonstrationen.

Um Korrektur bemüht war am Wochenende der christdemokratische Innensenator Jörg Schönbohm, der das Protestimage Berlins ins Positive zu wenden wußte. Lobend erwähnte er die Demonstrationskultur in Berlin und attestierte den Hauptstädtern, daß in der Regel die Zusammenarbeit zwischen Anmeldern und Polizei funktioniere: „Insgesamt läuft es gut.“ Vor allem um das Schmuddelimage sorgt sich Schönbohm. Immerhin seien in den letzten Jahren nur 1,5 Prozent der Demonstrationen unfriedlich verlaufen. Ausrutscher waren insbesondere die Mai-Krawalle der linksautonomen Szene.

Warum die Demonstration am kommenden Regierungssitz derart stark angestiegen sind, verrät auch die Tabelle der Innenverwaltung nicht. Vermutlich brachte der Sparkurs des schwarz-roten Senats die Menschen mächtig Wallung. Allein im vergangenen Sommer protestierten fast jede Woche Studenten und Schüler vor Bezirksämtern, vor dem Landtag oder dem Sitz des Regierenden Bürgermeisters im Roten Rathaus. Daß die meisten Demonstrationen nach dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ verliefen, beweist hingegen die stark gesunkene Zahl verletzter Polizisten. Während die Wende- und Vereinigungsjahre 1989/90 mit 1.107 verletzten Beamten eine bis dahin unbekannte Spitzenmarke erreichten, meldeten im vergangenen Jahr nur 98 Beamte Blessuren. Ironie der Geschichte: Die Statistik war nach einer parlamentarischen Anfrage des Berliner PDS-Abgeordneten Freke Over zusammengestellt worden – eines ehemaligen Hausbesetzers und Schönbohm-Intimfeindes. Severin Weiland

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen