: Bedeutung auf Schienen
Das Leid im Allgemeinen: Bis September macht Yoko Onos Installation „Freight Train“ auf dem Berliner Schloßplatz Station. Der Lichterwaggon zieht die Aufmerksamkeit der Hobbyknipser auf sich – und die unterschiedlichsten Interpretationen
von HARALD FRICKE
„Patagonien“, sagt der Mann im 100er-Bus mit ärgerlicher Stimme, „alles nur, weil sie unbedingt nach Patagonien fahren wollten!“ Ihm wäre das nicht passiert, er hätte sich nicht von ein paar Halbwilden ausrauben lassen. Aber wenn seine Eltern nach der Pensionierung unbedingt herumreisen müssen, dann auch auf eigene Gefahr, „so ist das im Ausland eben“.
USA. Endlich das freie Amerika. Mit diesem Gedanken im Kopf ließen sich vor ein paar Jahren eine Gruppe mexikanischer Arbeiter von Schleusern in einem Güterwaggon illegal über die Grenze nach Kalifornien schaffen. Sie hatten Pech. Der Zug blieb auf einem Nebengleis irgendwo in der Wüste stehen, alle Männer erstickten. Die Geschichte ging damals durch die US-Presse – auch als Kritik an der kalifornischen Regierung, die zu wenig Sicherheitsbeamte im Kampf gegen die illegale Einwanderung einsetzte.
Berlin. Es sollte unbedingt Berlin sein, weil „ich die Stadt mag“, sagt Yoko Ono. Außerdem hat ihr der Senat sein Okay für ihre Skulptur im öffentlichen Raum gegeben: Jetzt steht ein Gerätewagen der Deutschen Bahn bis zum ersten Oktober auf dem Schloßplatz, mit einem Sockel aus Schottersteinen und echten Schienen.
Der Waggon stammt aus Hannover, ist 10,6 Meter lang, trägt die Aufschrift „leer 23.2.99“ und wurde „abgemeldet am 21.5.99“, wie jemand mit blauer Kreide innen an der Wand notiert hat. Dass man die Zeichen deutscher Gründlichkeit so genau lesen kann, liegt an den Einschusslöchern: Der Wagen wurde mit 4.000 Gewehrkugeln zersiebt. Auch dafür brauchte die New Yorker Künstlerin eine Genehmigung, immerhin fallen einige der von ihr benutzten Waffen unter das Kriegsschutzgesetz.
Ein Mahnmal. Für Yoko Ono war klar, dass sie in Berlin nur ein Kunstwerk realisieren konnte, das sich auf die Geschichte der Stadt bezieht. Deshalb ist am Waggon eine silberne Gedenktafel angebracht, mit dem eingravierten Satz: „Eine Arbeit der Wiedergutmachung für die Ungerechtigkeit und den Schmerz, den wir in diesem Jahrhundert erfahren haben und der Ausdruck findet in Widerstand, der Heilung und der Hoffnung für die Zukunft, Herbst 1999 y.o.“ Der Zug, die Schienen, das 20. Jahrhundert und Deutschland – das ist für Dr. Josef Lange, Staatssekretär im Kultursenat zum einen eine „Erinnerung an den Holocaust“, aber auch ein Symbol „für mehr Zivilcourage“ in Zeiten des Rechtsextremismus, weil Berlin mit dem Kunstwerk mitten im Zentrum der Stadt zeige, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe.
Detroit, Tokio, Mexiko-Stadt. Die Installation „Freight Train“ soll nach der Deutschland-Premiere weiterwandern. An den Holocaust wird sich dort womöglich niemand erinnern, wenn er den Güterwagen sieht. Auch das gehört zum Konzept von Yoko Ono: Schließlich geht es ihr um das Leid im Allgemeinen und den Schmerz, den Menschen Menschen zufügen können, „mein lieber Ehemann John ist ja auch von einem Fanatiker erschossen worden“. Außerdem stehe der Zug doch nicht allein für Vernichtung, sondern ebenfalls für „Heilung und Hoffnung“. Deshalb hat Ono gewaltige Scheinwerfer in den Waggon bauen lassen, die nachts durch die Einschusslöcher zum Himmel hinaufstrahlen, als wären es „die Seelen der Toten“. Das ist ihre „künstlerische Vision“, weil man, wie sie später auch noch sagt, „Visionen nicht den Leuten mit der falschen Ideologie überlassen darf“.
Der Schloßplatz war zur „Langen Nacht der Museen“ am Samstag abend voller Menschen. Tatsächlich zieht Onos Zug das Publikum an. Vor allem Knipser, für die das Lichterspiel der Einschusslöcher mit dem angeleuchteten Palast der Republik im Hintergrund ein prima Motiv hergibt. Die Message ist dabei völlig egal, das schön schimmernde Erscheinungsbild zählt. Ein älterer Herr, der den Waggon eingehend studiert, hat trotzdem so seine Zweifel: „Das versteh ich nicht, die Kugeln sind ja sowohl von außen als auch von innen abgefeuert worden, das sieht man ganz deutlich!“ sagt er zu seiner Frau. Dann hat er eine Erklärung: „Das steht wohl als Zeugnis für die grausamen Kämpfe zwischen deutschen Flüchtlingen und der Russenarmee am Ende des Krieges.“
Auf diese Idee ist Yoko Ono gar nicht erst gekommen, dafür lebt sie wohl doch zu weit weg von Berlin und von Deutschland im Jahr 2000. Eine Entschuldigung ist das nicht.
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