: Bambi tot
Beim emotionsgeladenen Karriereende von Andre Agassi, 36, nachdessen Niederlage gegen Benjamin Becker fließen jede Menge Tränen
AUS NEW YORK DORIS HENKEL
Wer ihn nie aus der Nähe gesehen, nie gehört und nie den Blick gespürt hat, mit dem er die Menschen betrachtet, der wird die letzte Episode in der Geschichte des Tennisspielers Andre Agassi melodramatisch finden. Wird sagen: Leute, da ist einer, der in einer wild bewegten Karriere alles gewonnen hat, aber nun mit 36 Jahren mit einem kaputten Rücken nicht mehr fit genug ist, um mit den Jungen zu spielen. Das hier sollte sein letztes Turnier sein, er hat noch zwei irre Spiele gemacht, aber nun ist es gut. Viel Glück fürs weitere Leben.
Ja, nun ist es gut, aber ohne Gefühle geht es nicht. Es war nicht leicht zu ertragen, ihn sichtlich angeschlagen und von üblen Schmerzen geplagt gegen Benjamin Becker spielen zu sehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, es mit dem bombastischen Sieg gegen Marcos Baghdatis bewenden zu lassen, nach dem er kaum noch gehen, sich nicht mehr rühren konnte. Aber er entgegnete: „Wenn ich hätte aufhören wollen, dann hätte ich das schon lange tun können. Dazu bin ich nicht hergekommen.“
Es gibt in einem Lied des Countrysängers Garth Brooks einen Refrain, den Agassi besonders mag und der zu seinem letzten Auftritt wie gemacht passt:
And now I’m glad I didn’t know / The way it all would end, the way it all would go. / Our lives are better left to chance. / I could have missed the pain, / But I’d of had to miss the dance.
Nein, er hat nichts verpasst, und am Fuße des Regenbogens steht er mit vollen Händen da. Dreimal wurde er am letzten Tag seiner Karriere mit Standing Ovations belohnt. Zuerst von 23.713 Fans und vom Gegner Benjamin Becker draußen im Stadion. Unter Tränen bedankte er sich in seiner kleinen Rede mit einer Sammlung fast poetischer Sätze. Er sei unendlich gerührt gewesen, sagte er später, aber nicht traurig. „Es war ein wunderbares Gefühl von Gemeinsamkeit, verbunden mit einem aufregenden Blick in die Zukunft.“
Als er in die Umkleidekabine kam, applaudierten alle Spieler, die dort versammelt waren, und das nahm ihn besonders mit. „Wir sind ja keine Firma, in der alle gemeinsam daran arbeiten, etwas zu erreichen. Wir sind Leute, deren Erfolg in vielen Fällen nur möglich ist, wenn wir die anderen klein kriegen. Und wenn die dir dann applaudieren, ist das das ultimative Kompliment.“
Das alles nahm auch Benjamin Becker mit. Normalerweise spricht einer, der gerade als großer Außenseiter einen epochalen Sieg gefeiert hat, von Stolz und Glück und Zufriedenheit. Er hatte Grund genug, stolz auf sich zu sein, denn unter den bekannten Umständen kühlen Kopf und ruhige Hand bewahrt und das Spiel aus eigener Kraft gewonnen zu haben, das war aller Ehren wert; eine große Tat. Aber auf die Frage, ob er glücklich sei nach diesem Sieg, antwortete Benjamin Becker: „Es war ja auch für mich ein emotionaler Moment. Natürlich war ich glücklich, aber ich war auch traurig, seinetwegen. So was werde ich bestimmt nie wieder erleben.“
Kollege Andy Roddick, der Montag im Achtelfinale Beckers Gegner war (das Spiel hatte bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht begonnen), hatte Verständnis für die gemischten Gefühle des Mannes, der als Agassis letzter Gegner in den Geschichtsbüchern landen wird. Doch er beschrieb sie ein wenig anders als der Sieger des Tages. Als er flapsig meinte: „Man will natürlich nicht der Kerl sein, der Bambi erschießt“, erklang lautes Gelächter im Tal der Tränen.
Agassi hätte sicher mitgelacht. Als er eine halbe Stunde nach dem 1144. und letzten Spiel seiner Karriere zur schätzungsweise 1.100. Pressekonferenz erschien, wirkte er körperlich schwer mitgenommen. Rutschte auf dem Stuhl hin und her, um eine Position zu finden, in der er das Sitzen ertragen konnte. Vor allem aber war er erleichtert, dass es vorbei war. Denn die Vergangenheit, meinte er, habe so ausgesehen: „Solange du spielst, ist alles mit einem Opfer verbunden. Es hängt ein Preisschild daran, das dir sagt, was es kostet. Du musst immer irgendwo sein und gleichzeitig darüber nachdenken, wo du außerdem sein solltest. Ich freue mich darauf, da sein zu dürfen, wo ich gerade bin.“
Er hat keine Angst, dass es ihm langweilig werden könnte im Ruhestand. So wie dem alten Rivalen Pete Sampras, der kürzlich angekündigt hatte, er wolle wieder gelegentlich Tennis spielen, denn zu Hause falle ihm die Decke auf den Kopf. Agassi wird sich nun noch intensiver als zuvor um seine überaus erfolgreichen Stiftungen kümmern, auch um die von ihm gegründete Schule für Kinder aus sozialen Brennpunkten in Las Vegas. Hat er darüber nachgedacht, wie er seinen eigenen Kindern erklären wird, womit er all die Jahre sein Geld verdient hat? „Naja, mein erstes Ziel ist, ihnen zu erklären, warum ich geweint habe. Sie waren ziemlich verwirrt, mich weinen zu sehen, weil sie wohl glauben, Väter tun so was nicht.“
Um zu ahnen, wie sehr einem Andre Agassi fehlen wird, der die Welt des Tennis zwei Jahrzehnte lang bereist, verwirrt, begeistert und unendlich bereichert hat, genügten ein paar seiner wie in Stein gemeißelten Sätze (siehe Kasten). Und zum guten Schluss stellte er selbst eine Frage: „Werdet ihr mich tatsächlich vermissen, oder tut ihr nur so?“ Während er noch mal einen Blick durchs Auditorium schweifen ließ und sich lächelnd erhob, um die ersten Schritte in sein verführerisch freies neues Dasein zu machen, hob wieder Beifall an. Sicher, das letzte Spiel seines Lebens hat er verloren, aber wenn jeder Abschied so aussähe wie dieser, dann wäre das Leben ein Traum.