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Baltische Urnen unberechenbar

Gewiß sind die kleinen baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen nicht das Gravitationszentrum der UdSSR, als Experimentierlabor für die bevorstehenden Wahlen spielen sie jedoch eine besondere Rolle. Sie verfügen nämlich über eine Tradition, die in der Rest-Union so gut wie unbekannt ist: Zwischen 1918 und 1940 waren die drei Länder unabhängig und demokratisch verfaßt.

Die reformerische Massenbewegung Lettlands, die „Volksfront“, hat zwar die Mängel des neuen Wahlgesetzes heftig kritisiert, ruft die Bevölkerung aber trotzdem zu einer „aktiven und politisch überlegten“ Teilnahme an den Wahlen auf, damit „die Gruppe unserer Deputierten nicht als zufällig zusammengewürfelte Mannschaft, sondern als Kollektiv mit eigenem Programm nach Moskau fährt“.

Seit Anfang des Jahres bereits ist das Koordinationszentrum der lettischen Volksfront für die Wahlen unter der Rigaer Telefonnummer 226838 zu erreichen. Regelmäßige Veröffentlichungen in der lokalen Presse erklären anhand konkreter Modelle, wie „progressive“ Kandidaten durch das komplizierte Verfahren bis zur endgültigen Nominierung hindurchgeschleust werden. Wie konservative Kräfte dies mit nicht ganz sauberen Mitteln zu hintertreiben suchen, kann man hier auch erfahren.

Der Kampf um die 40 Deputiertenmandate für Lettland ist also keineswegs nur ein Sandkastenspiel und für manche Überraschung gut. So fiel der Generalsekretär der KP Lettlands Janis Vagris beim ersten Anlauf in seinem Wahlkreis gegen das Vorstandsmitglied Juris Dobelis der informellen Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands mit Pauken und Trompeten durch. Nicht besser erging es dem zweiten ZK-Sekretär, dem Russen Vitalis Dobelis, in der Stadt Daugavpils, obwohl dort 60 Prozent der Bevölkerung ebenfalls Russen sind.

Studenten und Lehrkörper des Politechnikums in Riga verlangten auf einer Massenversammlung sogar die „Abberufung“ des Kandidaten August Voss, der ihnen bei den Wahlen vor fünf Jahren als „ihr Mann“ verpaßt worden war. Voss, damals Chef der KP Lettlands, residiert heute als Vorsitzender der Nationalitätenkammer des Obersten Sowjets der UdSSR in Moskau und wird als Kandidat der zentralen Parteiinstanzen letztlich doch seinen Weg in den neuen Deputiertenkongreß finden. Dennoch: Die baltischen Wähler sind für die Nomenklaturakandidaten unberechenbar geworden.

Die Esten sind bereits einen Schritt weiter. Sie wandten sich mit Erfolg gegen eine Beschneidung der Kandidatenlisten und Bevormundung der Wähler durch die Wahlkommissionen: Jeder vorgeschlagene Kandidat wird in Estland automatisch auf die Wahlzettel übernommen. Bei bis zu einem Dutzend Kandidaten pro Sitz keine ungefährliche Entwicklung. Falls nämlich keiner der Kandidaten die Mindeststimmzahl von 50 Prozent erreicht, sind Nachwahlen angesagt. Die Letten sind in das entgegengesetzte Extrem verfallen, in einer Reihe von Wahlkreisen blieb es hier bei einer einzigen Nominierung: beim Kandidaten der Volksfront. Da kann einem bekannten Nomenklaturavertreter wie dem Direktor der Autofirma „Rigaer Automobilfabrik“ V.Boserts schon der Kragen platzen. Auf einer Wahlkonferenz am 21.Januar befand er die Versammlung für überflüssig: „Bevölkerung und Volk in dieser Region“ seien „von miserabler Qualität“. Boserts fand für diese Ansichten keine Mehrheit.

Ojars Rozitis

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