Autorin Olivia Wenzel über Identität: „Coming-out als Nicht-Weiße“
In „1000 Serpentinen Angst“ erzählt die Autorin vom Aufwachsen als schwarze Person in Ostdeutschland. Und sie spricht vom Glück im Leben.
Olivia Wenzel sitzt in einem Café in Berlin, die Mittagssuppe schon auf dem Tisch. Mit dem Interview müssten wir kurz warten, sie habe noch ein paar Sachen für die Buchpremiere zu regeln – und bedient Telefon und Laptop gleichzeitig. An diesem Mittwoch erscheint „1000 Serpentinen Angst“. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, ihrem Leben mit einer Angststörung, dem Verlust ihres Bruders und der Frage nach Zugehörigkeit.
taz: Frau Wenzel, ist Ihr Buch eine Art Coming-out als Ostdeutsche?
Olivia Wenzel: Es ist eher ein „Coming-out of not being white“, ein Coming-out als Nicht-Weiße. In den ersten Theaterstücken, die ich geschrieben habe, ist das gesamte Personal weiß, und ich habe es nicht einmal gemerkt. Dann war ich in einem Workshop vom Ballhaus Naunynstraße, und da wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nur weiße Menschen denke, wenn ich schreibe. Danach habe ich Stücke geschrieben, in denen dieser Aspekt auftauchte, aber erst jetzt mit dem Buch ist es zu einem zentralen Thema geworden.
Die Mutter der Protagonistin war eine in der DDR eingesperrte Punkerin, die Großmutter ist eine linientreue SEDlerin. Welche Rolle spielt diese Herkunft im Buch?
wurde 1985 in Weimar geboren und lebt in Berlin. Sie schreibt Theatertexte und Prosa, macht Musik und leitet Workshops für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Ich hatte beim Schreiben das Gefühl, dass die Protagonistin vor allem die Frage umtreibt: Wo ist mein Platz in der Welt? Und diese Frage ist gekoppelt an die Frage, wo komme ich her und was sind die Plätze, auf denen meine Familie vorher saß?
Die Geschichte beginnt mit der Ankunft der Protagonistin in den USA, dort erlebt sie den Wahlkampf 2016 mit. Der erste und der letzte Teil des Buchs sind in Fragen und Antworten strukturiert. Eine Frage wiederholt sich dabei immer wieder: Wo bist du jetzt? Frau Wenzel, wo sind Sie jetzt?
Mit dem Kopf an verschiedenen Baustellen. Halb bei der Familie, halb bei der Buchpremiere und halb beim nächsten Projekt. Emotional bin ich, wenn es kurz mal ruhig ist, bei Hanau und ziemlich wütend. Mich macht das sehr traurig. Ich frage mich: Wann wird da noch einmal etwas breiter drauf reagiert politisch?
Was wünschen Sie sich?
Mely Kiyak hat das auf den Punkt gebracht: Es ist schade, dass Merkel nicht gleich nach Hanau gefahren ist und kondoliert hat. Sie kommt erst jetzt. Stattdessen gab es eine Rede auf dem Marktplatz, zu der dann die Angehörigen der Opfer selbst hingehen mussten. Die Politik kommt nicht zu den Angehörigen, sondern wieder müssen sie zur Politik gehen. Mir fehlt auch ein ernsthaftes, öffentliches Nachdenken darüber, die AfD zu verbieten.
Eine andere Frage, die im Buch oft vorkommt, ist: Was unterschlagen Sie jetzt gerade?
Ich unterschlage gern, wie viel harte Arbeit dieses Buch war. Ich unterschlage im Alltag relativ oft, laut, empört und wütend zu sein. Ich bin bei Konfrontationen im Alltag immer erst freundlich und versuche, charmant Sachen zu regeln, aber ärgere mich oft im Nachhinein darüber.
Über diese Fragen entspinnt sich im Buch eine temporeiche Geschichte, ein Rückblick, ein Stellung Nehmen. Es geht um eine Liebesbeziehung, um Rassismus, einen gestorbenen Bruder. Wer ist die fragende Person?
Ich nenne das immer die fragenden Instanzen und Sprechweisen. Am Anfang sind das ganz verschiedene Stimmen. Zu den Fragen inspiriert hat mich mal eine Schlagzeile von Buzzfeed oder mal etwas, das ich im Vorbeigehen von anderen Leuten gehört habe. Die Texte kommen „von überall“, die Fragen orientieren sich am politischen Zeitgeschehen, sind psychologisch oder teilweise auch Verhörsituationen, wie bei einer Einreise in die USA. Und später wird es eher ein Zwiegespräch der Protagonistin mit sich selbst.
Ich habe die Fragen auch als Unmöglichkeit gesehen, mit sich selbst zu sein und das fragende Gegenüber auszublenden.
Viele Menschen und ihre Körper sind marginalisiert und dadurch daran gewöhnt, sich im Außen zu bespiegeln und zu überlegen: Wie wirke ich in dieser Situation? Wenn ich etwa auf einem Platz im Bus der BVG sitze und stehe als Allererste auf, wenn eine ältere Frau den Bus betritt, dann tue ich das nicht nur, weil ich höflich bin. Ich tue das auch, weil noch mitschwingt, dass ich hier gerade etwas repräsentiere. Ich möchte das Gute repräsentieren, sodass man sagen kann: Schauen Sie, diese junge Schwarze Frau war sehr höflich zu Ihnen. In den USA nennt man das double consciousness, ein doppeltes Bewusstsein, dieses sich selbst Betrachten von außen.
Sie sind Musikerin, Performerin, Dramaturgin – was können Sie mit dem Buch ausdrücken, was Sie in diesen Bereichen nicht können?
Ich habe viel mehr Raum, kann ausgiebiger sprechen und denken. Eigentlich arbeite ich am liebsten im Kollektiv und das bedeutet, dass viele Inhalte von anderen Personen in meine Arbeit einfließen. Eine wichtige Arbeit war beispielsweise das Theaterstück „Die Erfindung der Gertraud Stock“. Da haben wir mit dem Kollektiv Vorschlag:hammer 14 Frauen über 80 interviewt und deren Biografien fragmentarisch zu einer großen Biografie verstrickt. Dieses Muster habe ich unbewusst für das Buch übernommen. Bei dem Stück stehen wir auf der Bühne und ziehen uns die Biografien der älteren Damen an, als wären sie unsere eigenen, bringen dabei unsere eigenen Inhalte ein. Beim Buch habe ich allerdings auch häufig mit autobiografischem Material gearbeitet.
Wie viel Olivia Wenzel steckt in der Protagonistin des Buches?
Diese Frau in dem Buch, das bin ich nicht. Aber was sie schildert und wie sie spricht, das kann ich nachvollziehen. Wir haben viele ähnliche Dinge erlebt. Ich würde sagen, sie ist eine düsterere Variante von mir selbst, die ich im Alltag nicht aushalten könnte, zu sein.
Die Protagonistin wie auch Sie sind aus Thüringen weggezogen. Beschäftigt Sie das Thema?
Damals nicht, rückblickend ja. Ich bin weggegangen, weil ich irgendwo sein wollte, wo es besser für mich ist. Und als ich das dann hatte, wurde es für mich schwierig, in die Enge zurück zu fahren. Ich habe in Hildesheim studiert. Als ich dort Bus gefahren bin, habe ich nach ein paar Stationen gemerkt: Ich schaue mich nicht die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt. Erst in diesem Moment alltäglicher Entspannung habe ich gemerkt, dass mir dieser Grad der Entspannung vorher nicht möglich war. Diese Angst ist deshalb auch Thema des Buches. Von dieser Angst weg zu sein, das ist gut und wichtig.
Rassistische Gewalt ist im letzten Jahr auch in Westdeutschland sehr sichtbar geworden, zuletzt in Hanau. Kann man sich als Person of Colour in Deutschland überhaupt noch sicher fühlen?
Man muss es versuchen, sonst muss man weggehen, so wie viele aus dem Osten weggehen. Ich persönlich fühle mich in meinem Umfeld sicher und wertgeschätzt. Aber ich weiß auch, dass das schnell einbrechen kann, auch in Kreuzberg oder Neukölln. In dem Buch unternehme ich den Versuch zu sagen, dass ich nicht permanent vor all diesen Dingen Angst haben kann, weil dann das Leben zu anstrengend wird. Ich kann auch nicht permanent an Häuserwänden hochschauen, ob was runter fällt, was mich erschlägt. Es ist ja doch immer noch wahrscheinlicher, dass ich bei einem Verkehrsunfall sterbe als bei einem rassistischen Übergriff. So beschissen das alles ist und so sehr sich das gefühlt gerade häuft, so sehr ist es trotzdem so, dass jeder meiner Tage in Berlin ziemlich okay ist.
Im Buch gibt es diesen Dialog: „Freust du dich auf alles, was kommt?“ Die Antwort: „Merkwürdigerweise ja.“ Sind Sie ein zuversichtlicher Mensch, Frau Wenzel?
Absolut. Ich glaube, dieses Jahr wird sehr gut für mich sein. Ich hatte viel Glück im Leben.
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