piwik no script img

Autismus freischaufeln

■ Schöner als linksprogressive Besserwisser zu bedienen ist, reaktionären Mist schön zu singen: Franz Wittenbrink über Die Fledermaus am Schauspielhaus

Am Schauspielhaus spricht man nur von „Castorfs Fledermaus“; Herr Johann Strauß wird unfein unterschlagen. Daß eine Operette aber nicht nur von der Regie – und mag sie, wird sie auch noch so laut und grell daherkommen – lebt, sondern die Musik das Spannende ist, behauptet der musikalische Leiter der Inszenierung, Franz Wittenbrink.

taz hamburg: Wieso inszeniert das Deutsche Schauspielhaus eine Operette?

Franz Wittenbrink: Sicher nicht aus dem gleichen Grund wie die Staatsoper. Musiktheater kann mit einem Schlag Stimmungen erzeugen, die beim reinen Sprechtheater zum Teil erst nach sehr langer Zeit entstehen. Wenn der aufgeklärte und abgeklärte Bürger dort unten im Theater sitzt und bei sich selbst beobachtet, wie ihn auch der reaktionärste Mist berührt, wenn er schön gesungen wird, dann ist das viel spannender, als eine Horde links-progressiver Besserwisser im Parkett zu bedienen.

Warum zeigen Sie kein zeitgenössisches Musiktheater und haben ausgerechnet Die Fledermaus vom Walzerkönig Strauß aus der Mottenkiste gezogen?

Es gibt kein einziges neues Stück, das man aufführen könnte. Es fehlt an Autoren, die mehr als Plagiate einer dümmlichen Unterhaltungsindustrie bieten. Außerdem ist die Fledermaus hochaktuell. Sie ist in Wien zu Zeiten einer wirtschaftlichen Depression geschrieben worden und spielt in einer Jahrhundertwende-Gesellschaft, in der man sich seine „Kicks“suchte. Heute sind die Love Parades der zeitgemäße Ausdruck dessen, was Operetten einmal repräsentierten: Man maskiert sich und taucht ab in eine Welt weit weg von jeden gesellschaftlichen Fragen. Damals durchaus gesellschaftskritisch, hat sich Die Fledermaus inzwischen musealisiert und stellt kleinbürgerliche Verlogenheiten als harmlose Späße dar.

Demaskieren Sie diese Verlogenheiten?

Wir wollen eine Ansammlung von verzweifelten Individuen zeigen, die gar nicht mehr wissen, wo sie den nächsten Kick herholen sollen. Wir versuchen, die Sehnsüchte aus diesem Autismus freizuschaufeln. Die Musik soll als Aufschrei der Gefühle begriffen werden. Bei der Instrumentierung entferne ich mich so weit vom Wiener Ideal, wie es nur geht: mit zwei Flügeln und einer Trompete. Keine Geigen, keine Holzbläser.

Kein Schmelz?

Manchmal schon, wenn die Trompete weich wird wie eine Geige und fast schluchzt. Die Trompete bekommt ein starkes Eigengewicht und malt Klänge, die an Großstadt und nassen Asphalt erinnern. Eine Art Miles Davis überlagert dann die Walzermelodien von Johann Strauß. Die Musik entfernt sich von der verlogenen Süffigkeit und gewinnt eine traurige Kälte.

Welches Publikum wünschen Sie sich?

Leute, die mit Popmusik aufgewachsen sind und immer gesagt haben: „In eine Operette gehe ich nicht. Den Scheiß tu ich mir nicht an.“Und dann entdecken, daß auch ein Walzer von Johann Strauß seine Schönheiten hat.

Interview: Karin Liebe

Premiere: Mittwoch, 10. Dezember, 19.30 Uhr, Schauspielhaus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen