: Ausstiegspolitik geht anders - betr.: Internationaler Wissenschaftler-Kongreß zu Leukämie und Krümmel, taz vom 4. und 7.7.1997
Klar, daß die Gassmänner (Gassmann, Kellerer, Vahrenholt und Co.) den grünen Staatssekretär wegen der in Auftrag gegebenen Gutachten zur Klärung der Leukämie-Relevanz des AKW Krümmel unter Beschuß nehmen. Das vorgebrachte Argument, die weltweiten Befunde würden belegen, daß die Radionuklidabgabe des AKW Krümmel nicht für die in der Umgebung aufgetretenen Leukämien verantwortlich zu machen ist, hält wissenschaftlichen Kriterien genausowenig Stand wie die Behauptung, Krümmel sei der Verursacher. In dieser Hängesituation ist es also eine politische Entscheidung, ob man dem Anfangsverdacht weiter nachgehen will oder nicht.
Wem an einer Klärung gelegen ist, muß zusätzliche Studien begrüßen, um doch noch die Stecknadel im Heuhaufen zu finden, d.h. so viele Indizien zusammenzutragen (auch entlastende), daß sie Munition liefern für einen gerichtsresistenten Stillegungsbescheid. Genau das aber wollen die Entlastungszeugen a la Gassmann nicht. Deshalb ihr Geschrei.
Kritik an der rot/grünen Ausstiegspolitik ist (...) dennoch von Seiten der AtomkraftkritikerInnen anzumelden:
(...) Bei der 5,6 Millionen DM teuren Fall-Kontroll-Studie hat sich die Politik bis heute darum herumgedrückt, festzulegen, ab welchem Signifikanzniveau der Aussagen sich die Landesregierung denn trauen wollten möchten können würde, KKK die Betriebserlaubnis zu entziehen. Eine vorherige Festlegung, ab welchem „Gefährdungspotential“die Landesregierung aktiv wird, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens sind epidemiologische Studien nicht geeignet, um 100prozentige Ja/Nein-Aussagen zu treffen, und zweitens muß den Herrschenden das Schlupfloch verbaut werden, das da lautet: „Die Ergebnisse sind uns – trotz ihrer Eindeutigkeit – immer noch nicht sicher genug, um Krümmel abzuschalten.“
Die Weisung der Bundesumweltministerin, die der Landesregierung untersagt hat, die anstehende periodische Sicherheitsüberprüfung im KKK so durchzuführen wie geplant, offenbart ein weiteres Dilemma angeblich rot/grüner Ausstiegspolitik: Sie macht(...) ausschließlich AKW-Aufsicht in Bundesauftragsverwaltung, d.h. sie akzeptiert, ohne zu murren, als wäre die Landesregierung froh darüber, daß Merkel ihre zaghaften Versuche (...), abblockt.
Ausstiegspolitik, an der sich Merkel die Zähne ausbeißt und die Gutachtensergebnisse auch in Stillegungsverfügungen umsetzen kann, ist etwas ganz anderes: För-derung/Aktivierung/Unterstützung von Anti-AKW-Inis, eines gesellschaftlichen Ausstiegsklimas, Informationen geben, Kongresse veranstalten, Anfragen erschöpfend beantworten, Abstimmen mit anderen Ländern, technische Probleme in den AKWs benennen, Entsorgungsnotstand offensiv nutzen, KlägerInnen unterstützen usw. Ohne dieses politische Instrumentarium offensiv zu nutzen, wird es in Schleswig-Holstein nie dazu kommen, daß die Stimmung im Lande so ist, daß Rot/Grün Merkel die Stirn bieten kann: „Ihre Weisung ist politisch nicht durchsetzbar!“
Bisher haben die Grünen den Anti-AKW-Bewegten einen Bärendienst erwiesen und von den Altparteien eine Riesenlast genommen. Denn sie haben gezeigt, daß auch Grüne mit ihrem „Stillegen nach Recht und Gesetz“bisher kein Stück vorangekommen sind. Sie haben den Nichtausstieg gesellschaftsfähig gemacht.
Karsten Hinrichsen, Brokdorf- Kläger und Bündnisgrüner
Betr.: „Die Politik der Nadelstriche“, taz Hamburg vom 5.7.97
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