Ausstellung im ZKM Karlsruhe: Die absolute Gegenwart
Lynn Hershman Leesons erste deutsche Retrospektive zeigt eine bedeutende Pionierin der Medienkunst. Und eine kluge Feministin.
Ein tragischer Unfall? Die Nase für immer verloren? Kein Problem: Bioprinttechnologien zaubern das gewünschte Modell aus dem 3-D-Drucker. Ein Beispiel einer aus Biomaterial rekonstruierten Nase schimmert wie die Kronjuwelen im Spotlight. „The Infinity Engine“, die Unendlichkeitsmaschine, heißt eines der neuesten Werke der Medienkünstlerin Lynn Hershman Leeson.
Zu der begehbaren Installation gehören außerdem genmanipulierte, phosphoreszierende Fische, die es in den USA in jeder Tierhandlung zu kaufen gibt. Wer da wieder raus ist, fragt sich, ob das die Zukunft war. Aber nein, es ist die Gegenwart.
„The Infinity Engine“ ist das Herzstück der weltweit ersten Retrospektive von Lynn Hershman Leeson im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe. Sie packt uns an einer wunden Stelle. Auf die Frage, was nach dem Hype der Social Media und dem Ausverkauf unserer Daten komme, nennt sie die Gentechnologie. Diese Dinge würden wirklich unser Leben verändern.
Die amerikanische Künstlerin reagiert seit fünfzig Jahren wie ein Seismograf auf die Abgründe der technisierten Gesellschaft. Eine Frau, noch dazu eine Feministin, die sich mit Neuen Technologien befasst! Dabei sind alle ihre Werke durchdrungen von einer existenziellen Energie, die im Hintergrund immer einen verletzlichen Menschen erahnen lässt.
In der Gegenwart leben
Ihr Fazit: „Ich versuche in der Gegenwart zu leben, weil die meisten Leute in der Vergangenheit leben. Wenn du in der Gegenwart lebst, denken die Leute, du lebst in der Zukunft, weil sie nicht wissen, was in ihrer Zeit passiert.“
Lynn Hershman Lesson, 73, ist die wohl einflussreichste Pionierin der Medienkunst, außerdem Filmemacherin und Professorin, preisgekrönt, sie lebt in San Francisco und New York. In ihren interaktiven Arbeiten verwendete sie erstmals Laserdisc, Touchscreen, später dann Rechner oder das Internet. Sie schuf Cyborgs, die in der Lage sind, mit Menschen in Kommunikation zu treten. „Hello, who are you?“, begrüßt uns Agent Ruby jenseits der Monitorscheibe.
Die neuen Technologien hätten keine Geschichte gehabt, begründet sie ihre außergewöhnliche Materialwahl. In der Kunstwelt stehe man immer im Wettbewerb mit alten Dingen. Kurze, aber klare Aussage. Selbst Peter Weibel, Chef des ZKM, wirft sich ihr verbal zu Füßen: „Ich verdanke dir wichtige Impulse meiner eigenen Karriere“, bekennt er. Beide sitzen während des Interviews in großer Eintracht auf einem Sofa, als gehörten sie zum Inventar der Ausstellung.
Lynn Hershman Leeson trägt noch immer die dunklen Locken, die in den 1970er Jahren zu ihrem Markenzeichen wurden. Das Haar verschattet mitunter ihr Gesicht wie in den vielen Selbstporträts, die in der Ausstellung zu sehen sind. Etwa auf einer Schwarzweißfotografie in Form eines riesigen iPhones. Das Glas ist zersprungen, unter den Rissen ist ihr Antlitz zu erkennen.
Die Darstellering Tilda Swinton
Ein anderes Gesicht, das wie die Wiederkehr des ewig Gleichen aus den dunklen Kammern der Ausstellung auftaucht, gehört Tilda Swinton. Der Filmstar ist die bevorzugte Darstellerin Hershman Leesons. In vierfacher Ausführung spielte sie 2002 in dem Kinofilm „Technolust“, einer Satire über eine Wissenschaftlerin und ihre geklonten Alter Egos mit den Namen „Ruby“, „Olive“ und „Marine“.
Ihr Hauptproblem ist es, an ihr Hauptnahrungsmittel zu kommen: männliches Sperma. Der feministische Unterton ist unüberhörbar. Auch auf diesem Gebiet hat Lynn Hershman Leeson Bahnbrechendes geleistet. 2010 setzte sie mit dem Dokumentarfilm „Woman Art Revolution“ der feministischen Kunst der vergangenen vierzig Jahre ein Denkmal.
Die Bandbreite ihres ein halbes Jahrhundert umfassenden Werks sprengt bis heute den herrschenden Kunstbegriff. „Für mich ist es Kunst, aber ich benutze immer hybride Formen“, sagt sie mit Blick auf ihr Genlabor, das sie mit Wissenschaftlern zusammen erarbeitet hat, „nichts, was ich tue, ist gradlinig.“
Die Retrospektive selbst funktioniert wie eine Zeitmaschine. Aus dem Schwarz der Wände leuchten die eleganten Fotomontagen, die „Phantom Limbs“, aus den 1960er Jahren auf. Models, deren Extremitäten durch elektronische Apparate ersetzt sind. Wie in einem verspiegelten Labyrinth tauchen parallel die Ikonen ihres Werks auf. Ein rot-oranges Outfit etwa erinnert an Roberta Breitmore, eine Kunstfigur, die Hershman Leeson mit Pass und Girokonto ausstattete und in deren Haut sie über fünf Jahre lang schlüpfte.
Das Spiel mit den Identatitäten
Roberta sei eine virtuelle Person gewesen, eine Vorläuferin ihrer virtuellen Figuren im Internet, sagt sie und weist auf ihr Spiel mit Identitäten hin. „Haben Sie die Puppen mit der Kamera im Auge gesehen: Eine ist wie Roberta gekleidet, trägt eine Brille wie sie. She is always behind me.“
Fotos, Einladungskarten und Presseartikel erzählen von ihren zahlreichen Performances und Projekten der 1960er und 1970er Jahre. Rekonstruiert ist die Dinnerperformance für den Kunsthistoriker und Duchamp-Sammler Arturo Schwarz, bei der Goldfische in den Weingläsern schwammen und das Geschirr sich in surreale Skulpturen verwandelt hatte.
„Einen Großteil meiner Arbeiten hatte ich schon vergessen“, bekennt Lynn Hershman Leeson ungerührt. Peter Weibel diagnostiziert anhand ihres Werks ein „phobokratisches Zeitalter“, das geprägt sei vom Geschlechterkonflikt und dem Verlust über die Kontrolle der eigenen Daten, siehe NSA.
Bis 29. März 2015. Ein umfassender Katalog ist für Januar geplant.
Keine Frage, mit dieser Ausstellung verwandelt das ZKM einen technisch aufwendigen Gerätepark in eine einzigartige Bilderlandschaft. Ein Eldorado für uns Voyeure, das uns in die absolute Gegenwart katapultiert. Etwa mittels der netzwerkbasierten Installation „Present Tense“, die aktuelle Daten über den Grad der Wasserverschmutzung in Karlsruhe anzeigt und uns gleichzeitig mit Unterwasseraufnahmen von schwimmenden Kindern unterhält.
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