Ausstellung im Hamburger Bahnhof: Damit Kriegen die Luft ausgeht
Die Ausstellung „Church for Sale“ ist überraschend politisch. Werke zu Themen wie Armut und Gentrifizierung stammen aus der Sammlung Haubrok.
Das eindrucksvollste Objekt ist leider schon wieder weg. Etwa eine Woche nach Eröffnung der Ausstellung „Church for Sale“ wurde die Luft aus Christoph Büchels Kunstoffreplik des Kampfflugzeuges F-16 herausgelassen. Das militärische Gerät, in seinen Originaldimensionen nachgebaut, sank im Zuge des Abbaus vor dem Eingang des Hamburger Bahnhofs in Berlin-Mitte in sich zusammen.
Als unverhoffte Zeuge dieser De-Installation wünschte man sich, dass überhaupt aus Kriegen so schnell die Luft abgelassen werden kann wie hier und generell nur noch weiche Gummihüllen vom martialischen Instrumentarium zurückbleiben.
Leider ist dem nicht so. Das Kunstobjekt, Werktitel „Dummy (F-16)“, war lediglich für die Berliner Witterung nicht geeignet. „Es drohte, uns in den Herbstwinden davonzufliegen“, erzählte ein Techniker, der den Abbau bewerkstelligte, der taz.
Aber auch die verbliebenen 25 Werke und Werkgruppen, die sich meist im Innenraum der großen Halle der Kunstinstitution befinden, sind das Kommen wert. Denn es handelt sich um Arbeiten, die oft in formaler Strenge sehr unterschiedliche politische Problemlagen aufgreifen und verdichten.
Särge für wehrdienstfähige junge Menchen
Sofort ins Auge fallen Rodney McMillians aus Karton gefertigte Objekte in Sargform. Sie rufen Bilder von Sargarrangements in Folge von Kriegen und Katastrophen in Erinnerung. McMillian wählte 18 Särge aus, als Verweis darauf, dass junge Menschen ab 18 Jahren in den USA – und nicht nur dort – als wehrdienstfähig gelten.
Die etwa kniehohen Objekte wirken außerdem wie eine Barriere. Das kann als Hinweis auf die Mobilitätseinschränkungen gelesen werden, die inzwischen Abwehrmaßnahmen für Terroranschläge so nach sich ziehen. Es kann darüber hinaus als Symbol für Zugangssperren in Gesellschaften überhaupt, sei es durch ethnische Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, soziale Schicht, Bildungsgrad oder Wohnort bestimmt, interpretiert werden.
„Church for Sale“ läuft noch bis 19. Juni 2022 im Hamburger Bahnhof in Berlin
Der Großobjekte ist damit noch kein Ende. Santiago Serra hat gewichtige Plastikbehältnisse, die jeweils einen Kubikmeter Erde enthalten, in die einstige Bahnhofshalle wuchten lassen. Vier dieser klobigen Objekte, die die ideale Würfelform beileibe nicht mehr halten können, sind jetzt zu sehen.
Sie gehören zu ursprünglich 40 Kubikmetern Erdreich, das Sierra 2013 in Bilbao ausheben ließ als Symbol für die Grundstücks- und Immobilienspekulationen in der baskischen Hauptstadt. Zur Gentrifizierungsschraube trug selbstverständlich auch das 1997 fertiggestellte Guggenheim-Museum bei.
Understanding statt Abriss
Gentrifizierungskritische Kunst nach Berlin zu bringen ist mittlerweile wie Eulen nach Athen tragen. Im Falle des Hamburger Bahnhofs verdichtet sich das Thema aber noch einmal. Denn auch der Standort des vor 25 Jahren eröffneten Museums war bis vor Kurzem bedroht. Die Rieck-Hallen sollten abgerissen werden, Pläne für die üblichen gesichtslosen Wohn- und Geschäftsbauten kursierten bereits in Investorenkreisen.
Dank eines Memorandums of Understanding zwischen dem Berliner Senat und der österreichischen Immo AG, der das einstige Bahngelände gehört, und das einen Grundstückstausch vorsieht, scheint die Gefahr aber gebannt. Der neue Senat muss das Papier allerdings noch umsetzen. „Church for Sale“ ist also die perfekte künstlerische Mahnung, hier auch Vollzug zu schaffen.
Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf eine gleichnamige Werkserie vom US-amerikanischen Künstler Edgar Arceneaux. Zum Höhepunkt des Ausverkaufs der Stadt Detroit fertigte Arceneaux grell bunte Aquarelle an, die Verkaufswerbebanner für abzugebende Kirchen zeigten. Die Telefonnummer, die auf dem Banner zu sehen ist, ist noch immer vergeben. Allerdings meldete sich am anderen Ende in Michigan nur der Anrufbeantworter einer Privatperson.
Ein weiteres der Großprobleme unserer Zeit verarbeitet der in Chile geborene Künstler Alfredo Jaar. Seine Installation aus gebogenen Neonröhren skizziert gängige Fluchtrouten über den Erdball.
Überraschend politische Ausstellung
Aus der planetarischen Perspektive zoomt Emily Jacir zu den ganz konkreten Zumutungen herunter, die israelische Checkpoints im Westjordanland für die palästinensische Bevölkerung im Alltag mit sich bringen. Sie lässt ihre im Rucksack versteckte Kamera bei mehreren Fußmärschen ununterbrochen laufen.
Dass Politik in erster Linie die Beseitigung von Problemen und das Herstellen möglichst lebenswerter Bedingungen für die größtmögliche Anzahl der Personen bei Berücksichtigung der Rechte von Minderheiten darstellen sollte, wird bei einer zweiten Arbeit von Rodney MacMillian deutlich. Er zeigt dort Ausschnitte aus der programmatischen Rede „The Great Society“ von US-Präsident Lyndon B. Johnson aus dem Jahre 1964.
Johnson verspricht dabei Auswege aus Armut, Bildungs- und Gesundheitsmisere. Manche dieser Gedanken lassen sich auch im Koalitionsvertrag der aktuellen Ampel-Regierung finden. Darüber kann man sich freuen – oder entsetzt sein, dass politische Versprechen von vor mehr als 50 Jahren noch immer als frisch und neu und positiv verkauft werden.
„Church for Sale“ ist eine für den Hamburger Bahnhof überraschend politische Ausstellung mit zahlreichen starken künstlerischen Positionen. Ermöglicht wurde sie in Zusammenarbeit mit der Berliner Haubrok Foundation. Diese Kooperation markiert auch einen Paradigmenwechsel nach Abzug des größten Teils der politisch so umstrittenen wie künstlerisch hochwertigen Flick Collection.
Strategische Partnerschaften mit unterschiedlichen Leihgebern sind das Konzept. Die parallel eröffnete zweite Ausstellung zum 25. Jubiläum, „Nation, Narration, Narcosis“, wurde gar als Shared Collection (gemeinsame Sammlung) mit den Nationalgalerien von Indonesien und Singapur konzipiert.
Kuratorin Gabriele Knapstein stößt mit diesem Konzept sowie mit der Sicherung der Rieck-Hallen das Tor weit auf für eine gute Zukunft des Hamburger Bahnhofs. In diesem Lichte wirkt die Bestellung zweier auswärtiger Direktoren ab Januar 2022 durch die frühere Kulturstaatsministerin Monika Grütters umso unverständlicher.
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