Ausschreitungen in Chemnitz: Klassenkampf vorm Marx-„Nischel“
Nach einer tödlichen Attacke in Chemnitz brechen sich rechte Aggressionen Bahn. Beim Aufmarsch am Montag war der Mord aber nur Stichwortgeber.
Als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß, fanden hier auf der Karl-Marx-Allee die großen SED-Aufmärsche und Maikundgebungen statt. Hier hielt Oskar Lafontaine vor WASG-Anhängern 2005 aber auch seine missverständliche „Fremdarbeiter“-Rede, die die später mit der PDS zur Linken vereinigte Wahlalternative plötzlich in ein rechtes Licht rückte.
Hinter dem „Nischel“ prangt am Gebäude der ehemaligen SED-Bezirksleitung in riesigen Lettern und verschiedenen Weltsprachen noch immer die Aufforderung aus dem Kommunistischen Manifest: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Was sich hier vereinigte, war am Tag zwei nach der Ermordung eines Deutschkubaners die alte und die neue Rechte, verstärkt durch „besorgte Bürger“ aus Chemnitz.
Die im Stadtrat mit drei Sitzen vertretene ausländerfeindliche Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ hatte den „Trauermarsch“ angemeldet. Pegida-Gesichter aus Dresden waren unschwer zu entdecken, der frühere PDS-Anwalt Jens Lorek zum Beispiel oder Heiko Müller, der im Wahlkampf den Anti-Merkel-Tourismus organisierte. Die nationalsozialistische Partei „Der dritte Weg“ stand mit einem Plakat in der ersten Reihe.
Anlass, um Generalfrust auszutoben
Nazigrößen wie Tommy Frenck oder der Konzertveranstalter Patrick Schröder tauchten in der Menge unter. Eine zunächst eifrig geschwenkte AfD-Fahne war nach einer halben Stunde verschwunden. Deren sächsische Landesspitze hatte per Pressemitteilung versucht, sich von den spontanen Ausschreitungen am Sonntag zu distanzieren und eine friedliche Trauerkundgebung am kommenden Sonnabend angekündigt.
Der Ermordete, um den man hätte trauern können, spielte bei diesem rechten Aufmarsch nur als Stichwortgeber im makabersten Wortsinn eine Rolle. In der Nacht zum Sonntag war er erstochen und zwei seiner Begleiter schwer verletzt worden, mutmaßlich von einem jungen Iraker und einem Syrer. „Aufstehen gegen Messer-Gräuel“ fordert ein Plakat, „Asylflut stoppen“ ein anderes.
Die Mordtat lieferte nur den Anlass, Generalfrust auszutoben. Denn die Rufe folgten den von Pegida und anderen rechten Aufzügen bekannten Ritualen. Selbstverständlich muss Merkel weg, wird der „Widerstand“ beschworen und die „Lügenpresse“ beschimpft.
Redner, die wegen der Störrufe der linken Gegendemo kaum zu verstehen sind, heizen eine Bürgerkriegsstimmung an. Die spontanen Hetzjagden auf Ausländer am Sonntag seien nicht Selbstjustiz, sondern Selbstverteidigung gewesen. „Die nächste Wende muss erheblich gründlicher werden“, ruft einer unter Gebrüll. Der britische Brexit wird zum Vorbild für einen nationalen Weg Deutschlands genommen. Es geht nicht nur gegen Ausländer, es geht gegen das System.
„Von uns geht keine Eskalation aus!“
„Ich bin extra aus Bayreuth hergekommen“, bekennt ein junger Mann stolz. Schon die Marschkolonnen von Bus und Bahn lassen auf Demo-Touristen schließen. Chemnitzer, mit denen sich ein Wortwechsel entspinnt, wollen keinesfalls Nazis genannt werden. Auf erwartbare fatale Folgen der Machtergreifungs-Parolen wie die Liquidation politischer Gegner angesprochen, geraten sie in Rage. „Du bist der erste“, rücken sie mit Drohgebärden dem Reporter nahe.
Jenseits der etwa 30 Meter breiten Karl-Marx-Allee, die heute wieder Brückenstraße heißt, beginnt der kleine Stadthallenpark. Ein Szenetreff Jugendlicher, freies Stadt-WLAN gibt es hier, aber auch Drogen. Ganz in der Nähe liegt der Tatort der Messerattacke. Auf einer Parkbank warten drei Jugendliche auf die angekündigte Linken-Demo. Weil Nazis in der Nähe sind, zeigt einer eine angeblich schussbereite Pistole, die er mitgebracht hat.
An diesem späten Montagnachmittag haben „Chemnitz Nazifrei“ und die Stadtlinke zu einer stationären Kundgebung in den Park eingeladen. Etwa tausend überwiegend junge Leute sind gekommen. „Die schlimme Tat wird instrumentalisiert“, warnt der Linken-Stadtvorsitzende Tim Detzner. „Von uns geht keine Eskalation aus!“
Stimmt, auch wenn sich über die Straße auf vielleicht 50 Metern Distanz ein ritualisierter Kampf der Stimmbänder und Megafone entspinnt. Nazis provozieren mit Eiertänzen die Antifa hinter dem Zaun, beschimpfen sie als Faulenzer, die erst einmal arbeiten sollten. „Eure Eltern sind Geschwister“, skandieren sie. „Wir wollen keine Nazischweine“, kommt es formelhaft zurück, ebenso das „Nie wieder Deutschland“, und einer ruft: „Nazis töten ist kein Mord!“
Nicht auf solche Dimensionen vorbereitet
Die Aggressionen aber brechen sich auf der Naziseite Bahn. Als es nach den Reden auf eine Runde um die Innenstadt gehen soll, stürmen einige Hundert plötzlich über die Straße auf eine Gruppe Ausländer und Linke los, die sich bis an den gegenüberliegenden Straßenrand vorgewagt haben und nun panisch die Flucht ergreifen. Flaschen, Gegenstände und Böller verletzen sechs Demonstranten, eine Leuchtrakete trifft glücklicherweise niemanden.
Die überrannten Polizisten können mit Mühe eine zweite Kette aufbauen, wenig später rücken zwei Wasserwerfer und Einsatzwagen heran, die eine Schutzwand bilden. Die Nazis aber dürfen auch nach dieser Eskalation ihre Runde laufen, nur von wenigen Polizisten eskortiert. Ein Polizeisprecher wirkt verwirrt, später räumt die Direktion ein, auf solche Dimensionen nicht vorbereitet gewesen zu sein. Den aggressiven Mob an der Brückenstraße einzukesseln, hätte offensichtlich viel mehr Einsatzkräfte erfordert. Aber auch beobachtete Hitlergrüße blieben vorerst ohne Folgen – mittlerweile ermittelt die Polizei Chemnitz diesbezüglich gegen zehn Menschen.
Und doch lief in der umrundeten Innenstadt das Einkaufsgeschehen scheinbar unbeeindruckt weiter, ärgerten sich Passanten nur über vorübergehende Straßensperrungen. Ein hochbetagter Rentner muss erst einmal verstehen, was los ist. Wo es doch so lange ruhig blieb in Chemnitz.
Nur um die Flüchtlings-Erstaufnahme gab es 2015 die damals üblichen Proteste. Beim Pressestatement wirkte SPD-Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig versteinert. Sie sprach von einer „furchtbaren Tat“ und hoffte auf die „Besonnenheit der Trauernden“. Die aber wollten an diesem Montag nicht trauern, sondern sich empören. Gegen alles, was anders als sie ist.
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