■ H.G. Hollein: Ausrichtung
Die Frau, mit der ich lebe, schläft gern und tief. Das ist auch gut so. Erstens kann sie dann nichts wollen, zweitens macht sie keine Unordnung. Unschön finde ich nur, dass sie im Bett ein hoffnungsloses Knäuel bildet. Aber ich arbeite daran. So zupfe ich hier an einem Zeh, schubse da an einer Wölbung, auf dass die Gefährtin unmerklich lerne, sich den parallelen Linien von Bettkasten, Oberkante des Heizkörpers und Fensterbrett motivisch anzupassen. Ein gewisses Problem, von dessen Lösung ich noch weit entfernt bin, ist die Nasenspitze der Gefährtin. Sie ragt nun mal, was soll sie machen, in Rückenlage spitz nach oben. Anfangs gab ich mich damit zufrieden, diesen Effekt als eine dem Gesamtbild gewollt eingefügte Brechung anzusehen, aber der Künstler tief in mir weiß, dass ich hier Gefahr laufe, die Integrität meiner Komposition einer momentanen Schwäche zu opfern. Ein radikaler – um nicht zu sagen verzweifelter – Neuansatz könnte darin liegen, die Gefährtin bäuchlings zu arrangieren, allein der manipulative Aufwand ist horrend. Und wie eine zufällige Studie ergab, ruiniert in dieser Position der ganz und gar nicht lineare Bürzel die Strenge des horizontalen Aufbaus total. Wenig überzeugend war auch der Versuch, einen Zeh der Gefährtin in gerader Linie mit der Nase korrespondieren zu lassen, erwies sich doch die an sich kühn gedachte Doppelspitze als von minimaler Temporizität, sprich die Gefährtin lag nicht still. Was für den inspirierten Realplastiker ohnehin ein gravierendes Handicap darstellt. In solch schwarzen Momenten möchte man schier verzweifeln und sich haltlos dem Absinth ergeben. Aber ich folge meinem Stern. Auch wenn ich gelegentlich in Erklärungsnotstand gerate. Zumeist unterstellt mir die erwachende Gefährtin allerdings gerüttelt andere als meine wahren Absichten und gähnt nur: „Heute nicht, Schatz, ich schlafe doch schon.“ Bisweilen ist der Respons allerdings ein anderer, und dann ist es mit dem angestrebten Stillleben sowieso vorbei.
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