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Ausgehen und rumstehen von Marlene MilitzLauter kleine Gartenzäune, weiß und rot gestrichen

Die New Yorker sagen, wenn man Manhattan verlasse, dann fühle es sich so an, als würde man vom Rand der Welt fallen. Bei den Berlinern ist das anders. Wenn die Stadt wochenlang in hochsommerlichen Temperaturen köchelt, dann fliehen sie stadtauswärts, an die kühlen Ufer der umliegenden Seenplatten. Spreewald und Havelland gehören ja quasi zur Stadt, auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als hätte man hier den Rand der Welt erreicht.

Pünktlich zur Mondfinsternis geht es für uns also nach Heiligensee. Zugegeben, Heiligensee gehört noch zur Stadt, aber nur gerade so. Das kleine Grundstück, Ziel unseres Wochenendausfluges, liegt direkt an der Havel. Gegenüber, am anderen Ufer, liegt Brandenburg, gekennzeichnet durch einen alten Grenzturm, der nun von Bäumen umringt freundlich zur anderen Flussseite grüßt.

Nach diversen Fahrten mit dem öffentlichen Personennahverkehr stehen wir verschwitzt auf dem kleinen Parkplatz des allseits beliebten und dauergeschlossenen Restaurants „Feuer & Flamme“. Von dort aus geht es durch ein kleines weißes Holztor am Havelufer entlang. Hier wohnen die Urberliner Dauercamper. Sie herrschen von April bis September in ihren kleinen Refugien aus Wohnwagen, Zelten und Campingmobilen – allesamt mit kleinen Zäunen klar voneinander abgegrenzt. Vom Christopher Street Day ahnt hier niemand etwas. Der Stadt zu entfliehen gehört in Berlin zum wahrhaften Stadtleben. Das war schon immer so. Die Dauercamper wissen das.

Beim Vorbeigehen wird jeder gegrüßt und jeder muss grüßen. Es wird in Badehose gegrillt, so wie hier eh alles in Badehose gemacht wird. Ein älterer Mann mit Glatze und Sonnenbrand streicht im Schweiße seines Angesichts den kleinen Zaun vor seinem Campingwagen rot an. Er wird auch gegrüßt. Nachdem wir unzählige kleine Türen und Tore auf und wieder zu gemacht haben, sind wir da, im kleinen Paradies.

Es ist im Prinzip das Westberliner Gegenstück zur DDR-Datscha bei Königs Wusterhausen. Wir holen die alten Spaghetti-Stühle aus dem Schuppen, entstauben das beige Sofa in der Hütte und stellen das Wasser an. Das winzige Klo, das sich abseits in einem Häuschen befindet, ist voller Spinnen. Überhaupt ist alles voller Spinnen. Es ist sofort gemütlich. Wir springen vom schiefen Holzsteg in den Fluss und grüßen die polnischen Tankschifffahrer aus dem Wasser.

Abends grillen auch wir in Badehose und Bikini. Wir sind auf den Geschmack gekommen. Es gibt Burger und Bier. Auf dem Wasser wird es langsam ruhiger. Ein letztes Mal fährt der Mississippi-Raddampfer „Berlin“ an uns vorbei, dann wird es still. Die Mondfinsternis haben wir vor lauter Grillspaß fast verpasst, wir können sie gerade noch erahnen. Dafür sind wir jetzt überzeugt, jeden einzelnen Stern sehen zu können. Während das Feuer langsam ausglüht, legen wir uns nach ungewohnt viel Frischluft und Sonne auf dem ausgeklappten Sofa schlafen.

Am Morgen sitzen wir bei Kaffee und Restburger am Wasser

Am Morgen sitzen wir bei Kaffee und Restburger vor dem Grundstück am Wasser und lesen Zeitung. Unsere Nachbarn – ein etwas älteres Paar – haben sich ebenfalls an ihren Kaffeetisch gesetzt, schweigen sich friedlich an und beobachten das Schiff „Moby Dick“, das voller fröhlicher Rentner mit Sonnenhüten vorbeigetuckert kommt. Wir vergessen die Zeit.

„Juten Morgen da drüben“, tönt es nach einer Weile aus dem Wasser, „ick bin ein Flüchtling aus Ostdeutschland. Keene Angst, ick spreche aber deutsch!“ Ein Schwimmer hat den Fluss durchquert. „Migrationshintergrund?“, ruft unser Nachbar zurück. „Nee, zum Glück nicht, da könnt ick wohl gleich wieder umkehren, wa?“ Allgemeines Gekicher.

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