piwik no script img

Ausdruck von Ohnmacht und Verzweiflung

■ betr.: "Politische Spuren im privaten Wahn", taz vom 15.10.90

betr.: „Politische Spuren im privaten Wahn“, taz vom 15.10.90

Ich habe mir einen deutlicheren Kommentar in der taz zu diesem Thema gewünscht, obwohl er sich in seiner Differenziertheit schon von den „Geistesgestörter verletzt Politiker“-Headlinern der übrigen Medien wohltuend absetzt.

Als taz-Leser weiß ich, daß in der Klinik Waldheim in der DDR damals Menschen, nur weil sie regimekritisch eingestellt waren, zwangspsychiatrisiert, medikamentös und sogar neurochirurgisch behandelt wurden. Die an staatsfeindlichen Gedanken erkrankten Gehirnzellen wurden entfernt.

Als taz-Leser weiß ich auch, daß in der JVA Straubing in Bayern, also im Westen, die Psychiatrie eingesetzt wurde und wohl auch noch wird als Disziplinierungsinstrument innerhalb des Strafvollzuges. Ein Hungerstreik, ein Protestbrief und ähnliches waren Indikationen für die Gabe hochpotenter Neuroleptika, sprich „chemischer Zwangsjacke“.

Dieter Kaufmann fühlte sich durch diesen Staat verfolgt, Adelheid Streidel ahnte von unterirdischen Kliniken, in denen Menschen in ihrer Psyche verändert, umgebaut werden. Sind beide in ihrer Vorstellungskraft so irre, wie mir die Medien glauben machen wollen? Nein, sie lagen in ihrem Weltbild nur ein bißchen daneben. Nicht unterirdisch, sondern nur verborgen waren jene Kliniken. Hier im Westen wird auch nicht für jedermann augenscheinlich verfolgt. Hinter den Gefängnismauern, diesen Ort kannte Kaufmann, funktionierte die Repression schon sichtbarer.

Statistisch gesehen sind psychisch Kranke seltener Gewaltverbrecher als Nichterkrankte. Daß diese zwei Menschen ihren Weg mit der Form der Gewalt genommen haben, ist also eher Ausdruck ihrer Ohnmacht und Verzweiflung als primär ihrer Krankheit.

Wer nun die Psychiatrie wieder beziehungsweise noch mehr abschließen will, der fördert die Energie, die in solchen Taten steckt. Nur ein tolerantes und verständnisvolles Umgehen mit der Andersartigkeit von Menschen kann aus dieser Spirale der Gewalt führen. Lutz Debus, Sozialpädagoge, Psychiatrische Tagesklinik des Kreises Herford

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen