: Aus Phrasen geflochten
■ Zwei „kollektive“ Muster-Rezensionen - Angelika Machinek hat aus dem Phrasen-Repertoire der Literaturkritik eine Lob- und Hudel-Arie und einen Totalverriß komponiert.
Angelika Machinek Das war der
dümmste Einfall nicht
Intellektuell wäre es natürlich befriedigender, wenn man ihm mal eins auswischen könnte. Statt dessen ist schon wieder eine Eloge fällig. Der Autor ist beinahe ein Genie, nur eben ein albernes, vielleicht sogar das albernste in diesem Jahrhundert. Seine Bücher und Aufsätze zählen zum Innovativsten, was die deutsche Nachkriegsliteratur hervorgebracht hat.
Stichwort für eine erste Einschätzung des Großklimas in diesem Buch: gelassen, souverän. Es ist die Geschichte eines Gescheiterten, der im ständigen Scheitern den Berg der Schuld immer vergrößerte, bis er fast darunter zu ersticken vermeinte und Wahn und Wirklichkeit nicht mehr zu trennen imstande war. Er lebt unter dem Terror einer Moral, einer mehr geahnten als gewußten Lebensverfehlung. Es kommt zu ein paar Begegnungen, zum Kauf einer Zeitung, zur Einkehr in zwei Gasthäusern und schließlich zur langsamen Heimkehr. Die Personen sind meistens unterwegs. Aufgebrochen zu neuen Ufern. Angekommen an einem Ort, der nur einen Namen trägt: bei sich selbst.
Das war der dümmste Einfall nicht. Aber die nicht nur literarische Qualität dieses Autors bestätigt sich auch darin, daß er sein Lebensthema hier grau und rigoros in eine neue Konsequenz hineingetrieben hat, ohne diese wohlfeil dem Zeitgeist auszuliefern. Bereits hier wird das biographische Grundmuster deutlich: ein ständiger Wechsel zwischen Vertrautsein und Entfremdung, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Bindung und Freiheit weckt das Bedürfnis nach Ausgleich dieser Gegensätze, nach einem Leben, das vereint, was doch immer getrennt ist.
Wohl werden bedeutende Themen oft nur angetippt, werden vorzeitig fallengelassen und gelegentlich auch förmlich verschleudert, aber es kommt doch stets wieder zu durchgeführten, kunstreich auf feste Resultate hingeleiteten Berichten. Im Verborgenen befinden sich die wichtigsten Orte des Geschehens, wo zentrale Entscheidungen gefällt werden und wo Unvorhergesehenes geschieht. Diesen Sachverhalt bildet der Roman ab.
Die Sprache, die auf den ersten Blick beharrend-zäh wirkt, zwingt den Leser, die eigene Ungeduld als Fluchtversuch zu erkennen. Kaum wahrgenommene Zeitsprünge bezeugen das Weiterfließen des Bilderstroms im Leser, der die Lücken zwanghaft selber schließt. Das Ungeheuerliche wird, ohne Wortschwall und ohne apokalyptische Bildlichkeit, in spröd -klarer Sprache sagbar. Aber ihm geht es offenbar um eine andere Einheit als die grammatische. Dieser Szenen- und Geschichtenerfinder, dieser realistische Phantast und weise Spinner denkt in Bildern, malt in Zeichen, erzählt in Gleichnissen, entwickelt wilde Handlungen und monströse Figuren, weil die Schriftsprache, in der er zu schreiben genötigt ist, für ihn immer Fremdsprache blieb. Man muß, so lautet die Formel, die Sprache vergessen, um die Dinge zu erkennen. Hier eben liegt der Hund begraben.
Die quicken Volten der Argumentation, die Widersprüche und aphoristischen Pointen, mit denen auf die gelassene Existenz so vieler Dinge verwiesen wird, welche es nach den Regeln der geläufigen Vernunft gar nicht geben dürfte, zwingen zu einem reaktionsschnellen Lesen, und man fühlt sich mit der Zeit aufs angenehmste trainiert. Wie vor diesem knappen Wachsen und Blühen im Geröll wird man auch im Text aufmerksamer, empfindlicher für das wenige, das aus seiner kunstvollen Monotonie aufscheint. Man erkennt sich darin wieder, trifft sozusagen alte Bekannte. Leicht, elegant, ja fast übermütig wechselt der Autor die Figuren und Perspektiven, demonstriert er, wie souverän er seine Objekte herbeizitieren oder aus einem Schicksalsverlauf in einen anderen bringen kann. Mit Behagen und Humor breitet er den Verbalschutt der Epoche aus. Die Beweislegung ist formal raffiniert und in der Kargheit der Preisgabe seines negativen Helden von einer kunstvollen Geschicklichkeit und dauernd enervierenden Verschwiegenheit. Das ist nicht bloß Ästhetik, sondern Widerstandsästhetik.
Aber dennoch eine opulente Erzähl-Orgie: barock in ihrer maßlosen Virtuosität, Jean-Paulisch in der ironischen Grundhalung, auch Döblinisch im detailbesessenen und gleichzeitig umfassenden Zugriff auf die Themen der Gegenwart, deren trübe Zukunftsaussichten ihre Wurzeln in einer aus „falschen“ Vergangenheiten zusammengewachsenen Vergangenheit haben.
Eine einfache und zugleich komplexe Geschichte, ganz zarte, leise Töne und zugleich ein Paukenschlag. Diser großknochige, bedächtige, eher bayerisch sensible Mann hat ein Buch geschrieben, das so gut und dringlich ist, daß man ihm möglichst viele Leser wünscht. Das Werk zerfällt
in sieben rote Drähte
Roman, Ballade, Novelle? Was bedeutet das heute, da alle bewährten Formen fragwürdig geworden sind und man sich in literarischen Kreisen weitgehend darauf geeinigt hat, daß es schwierig bis unmöglich geworden sei, schlicht eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht ist dies aber eine Zeit, die - zumindest in Westeuropa - nicht nach dem großen Roman und schon gar nicht nach dem Romanzyklus verlangt. Vielleicht ist dies eine Zeit, die ihre literarische und sozial angemessene Darstellung nur noch in der kleinen Form finden kann. Einen Roman liest man freiwillig doch nur, wenn er mit einem selber, in der Wirklichkeit oder in der Einbildungskraft, zu tun hat.
Mit höflichen Verbeugungen und gütigen Umschreibungen ist es hier nicht getan. Vielmehr muß man sich ein Herz nehmen und mit der Tür ins Haus fallen.
Handlung: Ein zunehmend phantastisch-groteskes Geschehen mit Zügen der Kolportage. Dabei beginnt das Buch verheißungsvoll, nämlich mit einem Mord. Zwei Menschen liegen im Bett, ein Mann und eine Frau. Er verludert bürgerlich. Er geht Nebenbeschäftigungen nach. Er spielt Billard. Er wandert. Er lungert herum. Als überraschend oder neu kann diese Lösung schwerlich gelten. Alles macht plötzlich Zeichen, manchmal schon überdeutliche und obszöne, das Weiß eines Schwanenhalses oder eines Arztkittels oder der bei der Leiche aufgefundenen Lilien, eine Kiesgrube, die Zeremonie des Händewaschens, das dumpfe Schwitzen in einer Sauna, der Tatbestand des „gewaltsamen Eindringens“ (nur in eine Wohnung allerdings), der zustoßende Billardstock, der geschälte Spargel. Die Masse der Phänomene, Ereignisse und Untaten vor und hinter dem Weltuntergang läßt sich nur durch Masse zwingen, und seine anerkannt ballaststoffreiche, ja roggenbrötlerische Ausdrucksweise, sein aufgegangener und zugleich obstipatärer Stil, mit dem er auch dem willigsten Leser den Schneid abkauft, kommen dem großen Vorgang bestens bei. Das Werk zerfällt in sieben rote Drähte, die zu einem dicken ächzenden Prosakettenhemd mit lyrischen Verbindungsstücken verstrickt sind: mit Sprachen gewappnet dem Untergang ins Auge blicken.
So etwas macht den Leser atemlos, er japst von einem Aha -Erlebnis zum anderen, erst recht, wenn der Autor ihm die Exempel für seine Behauptungen auftischt. Die Zäsuren zwischen den Kapiteln sind so kurz, daß man kaum Zeit hat, Atem zu holen, Melancholie kommt wie zwangsläufig auf, und Wut ist gegen die Melancholie gesetzt und gegen die Wut wieder Melancholie. Es sind vorausempfundene Abschiede, bevor das Ende in Sicht ist, daher Abschiede und Liebeserklärungen zugleich: an die Jugend, an Tisch und Bett und an das Ticktack der Zeit.
Aber was macht das Buch letztlich zu einer ärgerlichen Lektüre? Noch bevor man nachsieht, wie denn all das Spielmaterial stilistisch bewältigt wurde, ist man schon befremdet von der Banalität der vorgestellten Figuren und Konstellationen, von ihrer aufgedonnerten Pseudo-Aktualität. Wer es aber riskiert, über den sonderbaren Text nachzudenken, der kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es dem ebenso bewunderungswürdigen wie liebenswerten Schriftsteller, aus welchen Gründen auch immer, gefallen hat, uns einen Scheck anzubieten, der leider nicht gedeckt ist. Immer die gleiche Problem-Mischung: es wird eine welthistorische Apokalypse entfaltet, relativiert und zugleich süffig erzählt - als ginge es doch bloß um eine Mischung aus Schelmenroman und Saga. Seine Rundumschläge haben etwas zutiefst Humanitäres an sich, er ist so ausgewogen, wie keine öffentlich-rechtliche Kommunikationsanstalt es je sein wird.
Für diese Auswechselbarkeit bezahlt er inzwischen einen hohen künstlerischen Preis. Offenheit, Überschaubarkeit, sanft-genau charakterisierende Witzigkeit: Das sind Darstellungen, die nichts über den Wert des in dieser Art Beschriebenen besagen. So können überflüssige Bücher geschrieben sein - aber auch Meisterwerke. Als Pate aller alten und neuen Meister, die je den Blick zurück in Hölle und Chaos wagten, erscheint Dante, Er ist der durchs historische Gefüge geisternde Augenzeuge. Aber er liest sich vorsätzlich mühsam. Früher war seine Erzählwelt vollgepflanzt mit Schimären der Untreue, des Verrats. Jetzt starrt er nur noch auf die Indizien der Schuld oder Unschuld. Er gehört - und das gibt es in deutschen Landen nur selten - zu den Predigern mit Pfiff, er fungiert als ein professioneller Prophet, dem es gefällt, Schreckliches zu verkünden, und dem es gelingt, dabei niemandem die Laune zu verderben. Und dennoch ein ganz und gar totes Buch, ein Wiener Zentralfriedhof der Literatur, dessen Grabinschriften von vergangenen Taten und gewesenen Schriftstellern künden. Der Autor macht sein literarisches Dahinsterben öffentlich.
Die Sätze in den von Angelika Machinek geflochtenen Muster -Rezensionen stammen in der Reihenfolge ihres Auftritts, von: Das war der dümmste Einfall nicht - Wolf Lepenies, Marcel Reich-Ranicki, Frank Dietschreit, Reinhard Stumm, Walter Fenn, Reinhard Baumgart, Jürgen Jacobs, Volker Wieckhorst, Otto Lorenz, Peter von Matt, Anton Thuswaldner, Ulrich Greiner, Walter Hinck, Manfred Züfle, Günter Schloz, Frank Schirrmacher, Joachim Kaiser, Friedrich Luft, Heinz Ludwig Arnold, Martin Lüdke und Werner Herzog; Das Werk zerfällt in sieben rote Drähte - Arnim Juhre, Wolf Lepenies, Ulrich Greiner, Marcel Reich-Ranicki, Walter Hinck, Friedrich Luft, Reinhard Baumgart, Gunter Schäble, Peter Glaser, Reinhard Stumm, Nicolas Born, Bernhard Häussermann, Anton Thuswaldner, Günter Zehm, Joachim Kaiser, Sybille Kramer und Volker Wieckhorst. - Wir danken ihnen allen.
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