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Aufruhr in London

■ 100.000 demonstrierten gegen Kopfsteuer / Schwere Straßenschlachten im Stadtzentrum / Auch DDR-Protestkultur in England

London (taz) - 130 Verletzte, fünf davon schwer, 341 Zuführungen, Sachschaden in Millionenhöhe und ein Bürohaus in Flammen: das ist die Bilanz des schwersten und längsten Aufruhrs seit Jahrzenten im Londoner Stadtzentrum.

Begonnen hatte es mit 100.000 Demonstranten (40.000 nach Polizeiangaben), die friedlich aus Süd-London zu einer Kundgebung gegen die ab gestern geltende „Poll Tax“ ins Zentrum zogen. Auf dem Weg durch die Paradestraße Whitehall, von der auch die Downing Street mit Margaret Thatchers Amtssitz abgeht, entwickelte sich eine spontane Sitzblockade, die von Spezialeinheiten der Londoner Polizei brutal aufgelöst wurde. In Sachen Protestkultur hat man offenbar aus der DDR gelernt: „Keine Gewalt“ und „Stasi, Stasi“ wurde den Polizisten entgegengerufen, was diese erst richtig in Wallung brachte. Nach Augenzeugenberichten wurden mehrere Demonstranten schwer mißhandelt, beispielsweise ein Mann im Rollstuhl, der herausgehoben und zusammengeschlagen worden sein soll. Der Demonstrationszug wurde Richtung Trafalgar Square getrieben, wo das Baugerüst eines Bürohauses in Flammen aufging.

Im resultierenden Chaos marschierten einige Tausend weiter durch die exklusiven Einkaufsstraßen, warfen Schaufenster ein und blockierten den Verkehr. Der Polizeibericht, der von den Medien wiedergegeben wurde, spricht hier von professionellen Chaoten, Anarchisten und Trotzkisten. Augenzeugen berichten von Solidaritätsbekundungen der kopfsteuergeplagten Passanten für den karnevalsartigen Zug.

Tony Sheridan, vom Anti-Kopfsteuer-Bund, meinte, die Gewalt habe einen wundervollen Tag gestört. Politiker aller Schattierungen verurteilten einseitig die „hirnlose“ und „traurige“ Gewalt der Demonstranten. Beteiligte betonen jedoch das provozierende Auftreten der Polizei. „Es gab Idioten auf beiden Seiten“, sagte einer der Demonstranten, Simon Ounsworth. „Aber die Bullen werden dafür bezahlt und kommen nachher nicht vor Gericht“.

Die Kopfsteuer, die ab gestern in Kraft ist, legt jedem Bürger auf, den gleichen Steuerbeitrag unabhängig vom Einkommen in die Gemeindekasse zu zahlen. Bei Nichtzahlung droht die Pfändung des Eigentums. Es hat sich trotzdem bereits eine breite Boykottbewegung entwickelt. In Schottland, wo die Steuer schon seit einem Jahr eingetrieben wird, haben nach Schätzungen zehn Prozent der Bevölkerung die Zahlung verweigert.

D.J.

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