: Aufruhr an der Grenze von Leben und Tod
FILMGESCHICHTE Das Arsenal-Kino zeigt ab heute zehn Lieblingsfilme der legendären Filmkritikerin Frieda Grafe. Darunter der grandiose Schwarzweißfilm „Das Wort“ des dänischen Filmemachers Carl Theodor Dreyer von 1955
VON CRISTINA NORD
Die Frau im Sarg ist tot, doch ihre Finger zucken. Wie kann das sein? Eine Einstellung von zwei ungläubig dreinblickenden älteren Männern folgt, dann eine der vielleicht acht Jahre alten Tochter der Toten. Ein Lächeln erobert ihr sommersprossiges Gesicht, und dieses Lächeln besiegelt, was man, solange man nur das Zucken der Finger gesehen hat, für eine Halluzination hätte halten können. Inger, die Tote (Birgitte Federspiel), Bäuerin auf dem Borgen-Hof in Jütland, ist zurück unter den Lebenden.
Die im Sprechen über das Kino so oft zitierte suspension of disbelief meint etwas Triviales: Dass man sich keine Gedanken über Plausibilität macht, wenn Spider Man eine Hochhauswand hinaufklettert. In dieser Szene von Carl Theodor Dreyers „Ordet“ (1955) aber erschließt sich der Begriff in seiner ganzen Tragweite, insofern an einer rückhaltlosen suspension of disbelief in den letzten Minuten des Films kein Weg vorbei führt. Obwohl das Glauben sonst nicht meine Sache ist, glaube ich an ein übersinnliches Ereignis. Und in diesem Augenblick freue ich mich mehr denn je über das Kino, weil es imstande ist, mich über die Grenzen meiner Weltsicht, meiner Rationalität und meiner Wahrnehmung hinauszutragen.
Als ich „Ordet“, auf Deutsch „Das Wort“, zum ersten Mal sah, nahm ich vor lauter Staunen kaum wahr, was an Ingers Auferstehung anschließt. Sie küsst ihren Mann Mikkel (Emil Hass Christensen). Sie ist links im Bild, er rechts, der Kuss trifft seine Wange, nicht den Mund, und ist dennoch kein keuscher Kuss. Im Gegenteil, er ist sehr lüstern, ähnlich lüstern wie das Gesicht der jungen Gisèle in Dreyers „Vampyr“ (1932), wenn sie in ihrer Schwester Leone nicht länger die geliebte Verwandte, sondern ein Wesen erblickt, an dem sich der Hunger nach Blut stillen lässt.
Der Kuss in „Ordet“ dauert lange, und als Inger die Lippen von Mikkels Wange löst, sind ein Speichelfleck und ein Speichelfaden zu sehen, der Faden verbindet das Paar noch eine Sekunde, nachdem sich Lippen und Wange schon voneinander gelöst haben. Als ich den Film zum zweiten Mal sah und diesen Speichelfaden wahrnahm, war ich noch verblüffter von „Ordet“, weil es Dreyer schafft, binnen einer Sequenz ein Höchstmaß an Übersinnlichkeit und ein Höchstmaß an Sinnlichkeit zu erzielen. So wie die Sphären von Leben und Tod am Ende nicht eindeutig getrennt sind, so führen auch die Transzendenz und die Immanenz, die Jenseitigkeit und das Irdische ein aufregend promiskes Miteinander. Dieses Miteinander ist in vielen Details des Films spürbar – in den taghellen Jütländer Nächten zum Beispiel oder in der Art und Weise, wie die Totgeburt dargestellt wird. Man sieht zwar nicht, was der Arzt mit Inger tut, weil ein Tuch auf ihren angewinkelten Beinen den Blick auf eine Weise versperrt, dass ein Bereich im Bild zum blinden Fleck wird. Aber man sieht die medizinischen Instrumente, die der Arzt heranzieht, Schere und Zange, und man sieht das Entsetzen im Gesicht von Mikkel. Eine Totgeburt in dieser Anschaulichkeit auf die Leinwand zu bringen, muss Dreyer erst einmal jemand nachmachen, und auch in diesem Augenblick greift Disparates ineinander: Die Konkretion dieser Szene paart sich mit der Eleganz, mit der der Regisseur ein Off im Bild schafft.
Frieda Grafe hat für das promiske Miteinander von Sinnlichem und Übersinnlichem einen schönen Begriff gefunden, einen Begriff, der so alltäglich ist wie die Verrichtungen auf dem Hof der Borgens, wie das wiederholte Kaffeekochen oder das Walken eines Teigs: den Begriff der Unordnung. Es zählt zu Grafes herausragenden Eigenschaften, dass sie an der homogenisierenden Lektüre von Filmen kein Interesse hat, sondern die zentrifugalen Kräfte in einem Film wahrnehmen und zur Anschaulichkeit bringen kann. Von Schemata und Gedankengerüsten hält sie sich fern. Sie schreibt: „Und wenn man es genau bedenkt, das Wunder am Ende von Ordet, die Totenerweckung, das ist wirklich der Triumph der Unordnung.“
Warum? Weil dieses übersinnliche Ereignis eine Ordnung weder wiederherstellt noch sich in eine solche einfügt. Die Auferstehung sprengt jede weltlich-rationale Ordnung, aber auch in die religiöse Ordnung will sie nicht hineinpassen. Denn Inger ist nicht Jesus, sondern eine einfache Bäuerin, und je weniger sie sich für die Weihen der Wiederauferstehung qualifiziert, umso mehr lässt sich ihre Auferstehung als Sakrileg lesen, als Kollaps von Ordnung.
Von Anfang an stellen sich in „Ordet“ Fragen des Glaubens, da jede der Figuren ihre eigenen Perspektive darauf entwickelt, mal agnostisch (Mikkel Borgen), mal fromm (Morten Borgen), mal fundamentalistisch (Peter Petersen), mal dem Wahn verfallen (Johannes Borgen), mal pragmatisch-lebensfroh (Inger Borgen). In den Dialogen werden die widerstreitenden Positionen immer wieder verhandelt. Das Ende des Films verwirft dieses feine, kluge Spiel nicht, es ist kein Machtwort des Regisseurs, kein lutherischer Donnerschlag, sondern eine Weiterführung der vorangegangenen Abwägungen und Reflexionen, wenn auch mit anderen Mitteln.
In einem ihren kurzen, pointierten Filmtipps geht Grafe so weit, zu notieren: „Dreyer ist ein Ketzer.“ Aber keiner, der deshalb zu einem Fundamentalisten der Vernunft würde. Eher einer, der, gerade weil er denkt, an eine Grenze stößt, die er mit dem Denken nicht überwindet. Und aus diesem Aufruhr an der Grenze des Denkens, aus diesem Umschlag des Denkens in Nichtdenken, erwächst das Übersinnliche, erwächst dieser großartige Film.
Der Text ist die gekürzte Fassung eines Essays, das im zweiten Heft der Reihe „Frieda Grafe – 30 Filme“ erscheint (herausgegeben von Annett Busch, Henriette Gunkel und Max Annas; Brinkmann und Bose, Berlin. 80 Seiten, 12 Euro). taz-Filmredakteurin Cristina Nord führt am 13. Juli in den Film ein