schnittplatz: Auf ewig Kanzler
Was haben sie bloß mit ihm gemacht. Schlimmes. Dieser Tage bricht es aus Helmut Kohl heraus. In seinem Tagebuch steht es drin: „Verfälschung“, „Kriminalisierung“, „Hinrichtung“, „Verteufelung“! Wer tut so etwas? „Teile der Medien“. Sein Haus belagerten sie, und wenn er sich auf dem Weg zum Untersuchungsausschuss durchquetschte, beleidigten sie ihn auch noch: „Herr Altkanzler“, drang es an Kohls Ohren. Altkanzler? Alteisen, Altlast, Alzheimer? „Lassen Sie das Alt weg!“, rief er ihnen zu. Ein Fernsehreporter war noch dreister: „Herr Kohl!“ – „Für Sie Herr Dr. Kohl!“
Aber das sind eben nur Teile der Medien. Es gibt noch die anderen. Die Guten. Es gibt Ulrich Wickert. Wickert begrüßte Kohl am Montagabend zum Tagesthemen-Interview mit: „Guten Abend, Herr Bundeskanzler.“ Als wäre nichts gewesen. Kein Schrödersieg, keine Spendenaffäre und nicht diese freche Gewohnheit deutscher Journalisten, in Fernsehberichten und Zeitungsartikeln möglichst auf untertänige Doktoren- und Honoratiorentitel zu verzichten.
Komisch war das schon, weil Kohl eben nicht mehr Bundeskanzler ist. Sondern Gerhard Schröder. Also ein Trick des Fernsehprofis, um den bei Interviews zuweilen wilden Kohl zu bändigen? Oder doch ein Versehen? Nein, sagte Wickert gestern, nur die richtige Höflichkeitsformel. Die Ursache liege bei ihm in einer „internationalen Deformation“. Als er sich als Korrespondent auf internationalem Parkett von Washington und Paris bewegte, lernte er: „Giscard D’Estaing ist Monsieur Le Président, und Bill Clinton wird auch im Januar noch Mister President sein.“ Nach dem Protokoll sei auch Richard von Weizsäcker mit „Herr Bundespräsident“ anzureden.
Kohl jedenfalls schaute zufrieden in die Kamera. Der ewige Kanzler. Anders als bei Wickerts Kollegen Ulrich Deppendorf (er sagt meist „Herr Dr. Kohl“) bretterte er nicht über jede Frage drüber, sondern antwortete. Wickert seinerseits ließ ihn geduldig ausreden. Und am Schluss artig: „Vielen Dank, Herr Bundeskanzler.“ Wäre Kohl nicht aus dem Berliner Studio zu Wickert nach Hamburg zugeschaltet gewesen, vielleicht hätte er den Moderator noch ein bisschen tätscheln können. Außerhalb des Protokolls.
GEORG LÖWISCH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen