: Auf die endlosen Pfade der Schildkröten geraten
■ Das Instrumental-Quintett Tortoise über Flüchtigkeit, Geschichten, Musikgeschichte und Musik ohne Objekte
Alle können sich im Moment auf die Schildkröten einigen. Alle heißt vermutlich der close circuit der Kritiker auf der Suche nach Verbindungslinien zwischen Rock und Electronic. John McEntire, Gründungsmitglied und für die Percussion bei Tortoise zuständig, nervt dieses Image der Kritiker-und Studentenband. So wie er eigentlich alle Zuschreibungen und Projektionen von sich weist.
Vagheit als Strategie, um sich Hörergruppen zu erschließen oder als künstlerisches Programm? „Wir passen auf, daß wir nicht zu sehr in eine Richtung driften“, sagt der ruhige McEntire zur taz hamburg. „Wir versuchen, mehr als nur zwischen den Polen Electro und Rock zu arbeiten, sondern ein musikalisches Feld zu öffnen, auf dem wir uns dann recht frei bewegen können. Das hat auch etwas mit dem täglichen Leben zu tun: Wie kann man am Ende des 20. Jahrhunderts in einer großen Stadt, wo man ja auch nur ein kleines Gebiet benutzt, leben und dabei sein Umfeld groß genug halten?“
Wie sich Tortoise dieses erweiterte Wahrnehmungsfeld vorstellen, führen sie in dem Eröffnungsstück „Djed“ vor, einer epischen Musikgeschichte in fünf Teilen. „Es beginnt im Matsch.“ assoziiert Mc Entire ironisch. „Dann erfinden die Menschen die Musikinstrumente, die sie zerstören.“ Das 23minütige „Djed“ ist ein großräumig angelegter Versuch, verschiedene Elemente nach einer bestimmten Logik zu integrieren. Dazwischen werden die Übergänge durch Zusammenbrüche, weißes Rauschen und Pausen gestaltet, die vom Hörer überbrückt werden müssen. Lücken, die es zu schließen gilt. Da es aber eine Klammer zwischen dem Anfang und dem Schluß gibt, macht es vom Ende her auch als Ganzes einen Sinn.
Obwohl der Titel ihrer aktuellen CD Millions Now Living Will Never Die ein wenig an einen Roman-Titel aus der Grabbel-Ecke erinnert, ist das Quintett aus Chicago nicht an der großen Geschichte interessiert. „Wir wollen vielmehr alle möglichen Assoziationen für den Hörer offen lassen“, entzieht sich McEntire wieder. „Was ich mir unter dem Titel vorstelle, wechselt von Tag zu Tag.“
Als Inspiration für diese Flüchtigkeit gibt er die legendär verfrickelte SST-Band Minutemen und John Corbett an, einen Professor und Kritiker aus Chicago, der gerade an einem Buch über Echos sitzt. Außerdem ähnelt ihre Vorstellung von Musik - in einer auf verkaufbare Objekte ausgerichteten Branche ein Paradox - an eine Performance. „Das Bild, das das Album vermittelt, ist nicht mehr als ein Schnappschuß. Einen Monat später wäre etwas anderes herausgekommen. So sind unsere Platten eine Art Verfälschung, weil sie als fertige Objekte existieren. In Wirklichkeit sind wir aber nicht objektorientiert, spielen deswegen gerne live, um alles wieder in den Fluß zu bringen.“ Ständig überschreiben, neu schreiben, neu lesen. Musik wie die langsamen, endlosen Wege der Schildkröten. Volker Marquardt
mit The Sea & Cake am Mi., 3. April, 20 Uhr, Markthalle
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen