piwik no script img

Auf der Brücke über den Mechi-Fluß

100.000 Flüchtlinge aus dem kleinen Bhutan wollen in ihre Heimat zurück. Doch König Wangchuk zeigt kein Interesse an seinen Untertanen. In der Grenzregion droht ein ethnischer Konflikt  ■ Aus Siliguri Bernard Imhasly

Auch in Naxalbari haben sich die Zeiten geändert. Wie ein Wegkreuz am Rand eines Feldwegs ragen außerhalb des Dorfs drei Büsten in eine Landschaft von Reisfeldern. Zwei von ihnen zeigen bekannte Physiognomien: Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin. Die dritte Person offenbart sich erst beim Lesen der Inschrift: Charu Mazumdar, der Schullehrer, der die Bauern von Bengalen zum revolutionären Aufstand gegen die Großgrundbesitzer aufgerufen hatte. Neben den drei Büsten ein kleiner Sockel mit elf Namen, Erinnerung an die Personen, die 1966 von der Polizei erschossen wurden. Damals entstand die Bewegung der „Naxaliten“, die Indien mit maoistischer Gewalt von seinen Ungleichheiten befreien wollte. Ein Jahrzehnt lang erschütterte sie Kalkutta und sein Hinterland, bevor sie, unfähig, die Bauern in einer Massenbewegung zu formieren, vom Staat ausgerottet und von einer reformistischen Kommunistischen Partei beerbt wurde. Die Gedenkstätte liegt verloren da, die Hütte unweit davon schaut immer noch armselig drein. Bimal Batra, der Bewohner dieser Hütte, sagt mit einer wegwerfenden Geste: „Ja, es gibt noch viele Großbauern in dieser Gegend.“

Ajoy Mukherjee, der kommunistische Distriktsekretär im nahen Siliguri, hat heute ganz andere Sorgen. „Die ethnische Frage ist viel drängender als die Klassenfrage“, sagt er mit eingeübter Rhetorik. Siliguri ist geographisch ein uninteressanter Ort, wenn man einmal davon absieht, daß es ein Knotenpunkt für die Reise nach Darjeeling ist, die berühmte Sommerfrische aus der Kolonialzeit, wo der Welt berühmtester Tee gepflückt wird. Aber der geographisch unbedeutende Ort hat geopolitisches Gewicht: Vier Länder sind in weniger als hundert Kilometern von hier aus erreichbar. Siliguri liegt im schmalen Korridor zwischen der Gangesebene und dem Brahmaputra-Tal, eingeengt von Bangladesch im Süden, Nepal im Westen, Bhutan und China im Norden. Hier bedrängen sich nicht nur die Arbeits- und Landsuchenden verschiedener Länder. Es ist eine Region, wo expandierende Bauernkulturen aus der Tiefebene und die kleinen Bergstämme des östlichen Himalaya aufeinandertreffen.

Ein Beispiel für die Konflikte, die sich daraus entwickeln, spielt sich gegenwärtig auf der Brücke über den Mechi-Fluß ab, nur einige Kilometer von den Büsten der beiden Weltrevolutionäre entfernt. Die Brücke ist der Grenzübergang nach Nepal, und der Verkehr ist so rege wie über eine Brücke zwischen zwei Stadtteilen; für die Bürger beider Länder gibt es keine Personenkontrollen. Nur auf der Mitte der 600 Meter langen Brücke kommt es zu Stockungen. Auf Stroh gebettet und unter dem traurig-berühmten Flüchtlingsblau der Plastikdächer des UNO-Hilfswerks für Flüchtlinge liegen dort rund zweihundert Menschen. Es sind Bhutaner nepalischen Ursprungs, welche ihre Lager in Nepal verlassen haben und nach Bhutan zurückkehren wollen, aus dem sie vor sechs Jahren vertrieben wurden. Es ist bereits die dritte Gruppe in diesem Jahr, die in einem friedlichen Marsch nach Thimphu, der Hauptstadt Bhutans, gelangen will, um den König zu bitten, sie wieder in ihre Heimat ziehen zu lassen.

Bis jetzt sind sie noch nicht einmal an die Grenze zu Bhutan gelangt. Die erste Gruppe hatte im Januar dieses Jahres den Überraschungseffekt genutzt und war bereits in Indien, als die indischen Behörden aufwachten und sie verhafteten. Seitdem haben die Inder für den Distrikt ein Versammlungsverbot ausgesprochen. Am 14. Februar wurde eine zweite Gruppe, als sie die Mitte der Brücke überschritt, verhaftet. Zwei Wochen später wurden weitere 373 Flüchtlinge in die Busse geleitet und abgeführt. Nun wartet die vierte Gruppe auf das Signal. „Und nach uns“, sagt Rup Narayan Suberi, „kommen noch viele.“ Suberi glaubt nicht, daß Bhutan ernsthaft daran interessiert ist, die nahezu 100.000 Flüchtlinge in den Lagern von Ostnepal zurückzunehmen. „Sie werden einige tausend akzeptieren und bei der großen Mehrheit abstreiten, daß es bhutanische Bürger sind.“ Die spontane Rückkehr soll Bhutan vor vollendete Tatsachen stellen, doch vorläufig sind sie Gefangene indischer Realpolitik.

Die Grenzen zwischen Nepal, Indien, Bangladesch und Bhutan sind nur auf der Karte klar demarkiert. Der Bevölkerungsfluß aus den dichtbevölkerten und ressourcenarmen Ländern Bangladesch und Nepal ist nicht zu kontrollieren. Wenn man in Siliguri einen Unbekannten anspricht, dann tut man das nicht in der Sprache des Gliedstaats Westbengalen, sondern in Nepali. Die Bangladescher ziehen lieber nach Assam, wo sie ihren Reis im vertrauten Schwemmland des Brahmaputra anbauen können. Die armen Bauern aus den Tälern Nepals bevorzugen die Dooars-Hügel, die Grenzregion zwischen Indien und Bhutan. Selbst Indien mit seiner multikulturellen Vielfalt und Größe hat zunehmend Mühe, mit dieser Migration fertigzuwerden. Das kleine Königreich Bhutan und seine geschlossene Stammesgesellschaft empfinden die Siedler in den südlichen Distrikten als existentielle Gefährdung.

Die Assimilationspolitik, die Bhutans König Wangchuk in den achtziger Jahren begann, war ein Versuch, die hinduistischen Nepaler in die buddhistische Bergkultur der Drukpas einzugliedern. Dies führte jedoch bald zu Protesten der Nepaler, gefolgt von Schikanen der Polizei. Sie fruchteten nichts und brachten statt dessen den Ruf nach Demokratie. Darauf setzte Bhutan auf eine rüde Repressionspolitik, die zur forcierten Emigration Zehntausender über die Grenze nach Indien und von da nach Nepal führte. „Die Regierung verlangte von uns, unser Land, unsere Bräuche, unsere Sprache aufzugeben“, meint eine scheue junge Frau, Sita Giri, auf der Mechi- Brücke. „Jeder, der beim Nepali- Sprechen erwischt wurde, mußte eine Strafe zahlen. Für jedes Wort ein Ngultrum“, die bhutanische Währungseinheit.

Nach sechs Jahren in den Flüchtlingslagern will Sita Giri wieder in ihre Heimat zurück. Heimat? „Ja, ich bin dort geboren, meine Eltern sind dort geboren, meine Großeltern. Ich weiß von nichts anderem.“ Bhutan mag Heimat sein, doch die Flüchtlinge rechnen fest mit der ethnischen Solidarität im indischen Gürtel zwischen Nepal und Bhutan. Wie wichtig die nepalischen Siedler dort inzwischen geworden sind, zeigt das Verhalten der Politiker. Einige der Reissäcke, welche die Flüchtlinge als Proviant erhalten haben, stammen von der kommunistischen Partei des Distrikts. Die Einwanderer sind in Nordbengalen heute die größte ethnische Gruppe. Nördlich davon, in Sikkim, haben sie die einheimischen Bhutias und Lepchas bereits verdrängt und bestimmen die Politik dieses kleinen Gliedstaats. Nur im Hügelgebiet um Darjeeling erhalten sie keine Unterstützung. Dort haben die nepalstämmigen, aber einheimischen Gorkhas der Regierung in Kalkutta inzwischen ein Autonomiestatut abgerungen. „Wir wollen keine Nepaler hier, die haben ihr eigenes Land; die Bengalen haben Bengalen, die Bhutaner Bhutan. Wir wollen Gorkhaland“, sagt der Mechaniker P.K. Rai in der Werkstatt der Darjeeling-Lokomotiven, und er präzisiert: „Rai, nicht Roy. Roy heißen die Bengalen.“ In der südlichen Tiefebene jedoch läßt sich heute keine Politik „ethnischer Sauberkeit“ mehr durchsetzen. Das Gesetz der demokratischen Stimmenmehrheit ist auch für Bengalen wie Ajoy Mukherjee so eisern wie die Priorität der ethnischen Frage vor der Klassenfrage, um so mehr, als in einigen Monaten Wahlen bevorstehen.

Selbst die Parteidisziplin kommt dabei manchmal ins Wanken. Mukherjee kritisiert offen die Politik seines kommunistischen Steuermanns in Kalkutta, Chefminister Jyoti Basu. Diesen verbindet eine alte Freundschaft mit König Wangchuk von Bhutan. Überdies teilt er aus Staatsräson die Haltung der Delhi-Regierung, welche sich an diesem Flüchtlingsproblem nicht die Finger verbrennen will. Basu kam dem Ersuchen Delhis nach Sperrung der Grenze für Flüchtlinge sofort nach und hält trotz Protesten seiner Basis daran fest. Indien teilt die Meinung Bhutans, das darauf beharrt, das Problem in Gesprächen zwischen Thimphu und Katmandu auszuräumen. König Wangchuk, der im März zu einem Staatsbesuch in Delhi weilte, wird nicht müde, die Identität dieser beiden Sichtweisen hervorzuheben. Eine paritätisch zusammengesetzte Kommission soll feststellen, welche Flüchtlinge bhutanische Bürger sind und ob sie gegen ihren Willen und unschuldig vertrieben wurden. Aber Bhutan ist überzeugt, daß es eine kleine Minderheit ist, und läßt keinen Zweifel daran, daß es nicht bereit ist, in einem Land von knapp einer Million Einwohnern 100.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Es sind zudem Flüchtlinge, die in sechs Jahren Exil eines gelernt haben: „Der Kampf für demokratische Rechte ist unser einziger Schutz.“ Der Mann, der auf der Brücke über den Mechi-Fluß diese Meinung äußert, wird von den Sprechern des Komitees mit einem Schwall von Nepali zum Schweigen gebracht. Dies ist nicht der Augenblick, um den Konflikt zwischen Demokratie und Monarchie hochzuspielen. „Wir wollen den König bitten, uns unser Land zurückzugeben. Das ist alles.“

Der Blick über das Brückengeländer zeigt ein weites Flußbett, wo in der gegenwärtigen Trockenzeit Reis angebaut wird. Überall sieht man Leute, die das Rinnsal weitab von der Brücke überschreiten, als gebe es keine Grenze. Warum schwärmen die Flüchtlinge nicht einfach zu Tausenden über diese offene Grenze? Rup Narayan ist bemüht, die friedlichen Motive der Aktion herauszustreichen, den Respekt vor den Gesetzen. In Siliguri allerdings wird dieses edle Motiv mit einem Lächeln quittiert. Es geht den Flüchtlingen und der nepalischen Regierung, die hinter ihnen steht, nur darum, Indien in den Konflikt hineinzuziehen, schreibt eine kleine bengalischsprachige Lokalzeitung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen