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Aspirin für den Wachposten

Seit drei Monaten bringt der Stralsunder Boris Wiechmann die Hilfslieferungen von Cap Anamur nach Tschetschenien  ■ Aus Grosny Jürgen Gottschlich

Da müssen wir durch.“ Kopfschüttelnd, aber mit einem glücklichen Lachen zeigt Boris auf Stapel von Kartons, Kühlschränken, Operationsbestecken, Rollwagen und etlichen Kubikmetern Mullbinden. „Wie soll ich das alles verteilen?“ „Boris, da mußt du jetzt durch“, lästert sein Kollege Achmet, doch Boris hört schon nicht mehr zu. Er sichtet und sortiert und würde am liebsten gleich hier sämtliche Pakete aufreißen.

Der Rest der Mannschaft denkt jedoch vorerst nicht ans Auspacken. Völlig abgekämpft sitzen zehn Leute auf einem Hof in der inguschischen Kleinstadt Slipzowskaja, direkt an der Grenze zu Tschetschenien. Vom Hof kommt man in einen großen Lagerschuppen, der jetzt bis auf schmale Gänge vollgepackt ist. Das Basislager von Cap Anamur für die Tschetschenien-Hilfe hat gerade seine vierte Flugzeugladung seit Anfang des Jahres bekommen.

48 Stunden sind vergangen, seit die große Illjuschin 76 auf dem Kölner Flughafen beladen wurde, 48 Stunden, in denen es kaum Schlaf gab, dafür aber jede Menge Probleme. Hilfsgüter in Krisengebiete zu bringen gehört zu den letzten Abenteuern der Moderne. Und die Abenteurer dürfen sich zugleich als Helden der Hilfsbereitschaft fühlen. Der russische Schriftsteller Lew Kopelew, der in Köln eigens zum Flughafen gekommen war, um dem Tschetschenien-Transport seine guten Wünsche mit auf den Weg zu geben, drückte das so aus: „Die nicht vom Staat, sondern von Bürgern für Bürger organisierte Hilfe, ist das große Vorbild für das 21. Jahrhundert.“

Während sich in Köln die Cap- Anamur-Leute Rupert Neudeck und Gerd Pirkl zum Abflug bereit machten, rumpelte Boris Wiechmann, Neudecks Mann vor Ort, bereits mit einer Kolonne von sechs Lkws über die Straßen Inguschiens. Er wird die Lieferung aus Deutschland auf dem Flugplatz der russischen Stadt Mineralnyje Wody entgegennehmen, um sie und die Transportbegleiter von Cap Anamur von dort nach Slipzowskaja zu bringen.

Boris ist mit den Karmas, offenen russischen Militärlastern, für gut 300 Kilometer einen Tag und eine Nacht unterwegs gewesen. Seit dem Geiseldrama von Budjonnowsk werden sämtliche Straßen vom Kaukasus in Richtung Norden von Militärposten kontrolliert. Da Inguschen in Rußland generell verdächtigt werden, mit den Tschetschenen gemeinsame Sache zu machen, war es ein kleines Wunder, daß es gelang, sechs Lkws und vor allem sechs Männer zu finden, die die Laster mit inguschischen Kennzeichen zum südrussischen Mineralnye Wody fahren, um die Medikamente abzuholen.

Als die Deutschen mit der Chartermaschine, die das Auswärtige Amt für den Cap-Anamur-Transport finanziert hat, verspätet in Mineralnyje Wody landen, haben Boris und seine Leute schon fünf Stunden gewartet. Und daraus kann leicht ein Tag werden. Denn für die russischen Zöllner, die die Ladepapiere für 40 Tonnen Medikamente durchgehen, geht dieser Hilfstransport praktisch an die Kriegsgegner. Während die Stimmung in der Maschine gegen Null tendiert – niemand darf rein, niemand darf raus, und niemand sagt Bescheid –, findet Boris eine einsichtige Intourist-Angestellte, die die Zollblockade beendet. Acht Stunden brauchen die Männer anschließend, um die Lkws zu beladen.

Boris Wiechmann ist Deutscher, geboren in Stralsund. Er spricht nahezu perfekt Russisch und wird von den Inguschen als einer der ihren behandelt. Wiechmann ist eher schmächtig als breit, eher wendig als kräftig, er ist 31 Jahre alt, geschieden und Krankenpfleger. Boris will helfen und seine Sache unbedingt gut machen. Er entschied sich innerhalb von zehn Tagen, für Cap Anamur nach Tschetschenien zu gehen.

Daß er in der DDR Offizier der Nationalen Volksarmee, der NVA, war, hat ihm an mancher Straßensperre der russischen Armee schon „sehr geholfen“. Geholfen haben ihm aber vor allem seine als Offizier erworbenen Kenntnisse in Logistik und „rückwärtiger Versorgung“. Dem Mann, der heute am liebsten bunte Pumphosen und Cap-Anamur-T-Shirts trägt, ist die Zeit in Uniform indes nicht mehr anzumerken. Achmet aus Slipzowskaja, der mit Boris arbeitet und so gut deutsch spricht wie dieser russisch, nennt ihn Boris Witzmann, weil er sich oft nur mit unsoldatischem Humor behelfen kann. In den drei Monaten, die Boris inzwischen mit seinem Lada- Niva stets im Kriegsgebiet unterwegs ist, hatte er lediglich ein Schreiben der inguschischen Regierung in der Tasche, das russische Soldaten im Zweifelsfall kaum ernstnähmen. Dennoch kam er fast überall durch.

Für die abgeschnittenen tschetschenischen Ambulanzen in Samaschki, Urus Martan und anderen Dörfern war Boris im März und April – als überall gekämpft wurde – oft die letzte Rettung. Er hat es sich zur Regel gemacht, jeden Tag ein Flüchtlingslager zu besuchen. Wenn Boris auftaucht, schallt ihm seine Name oft schon von weitem entgegen. Er kennt die Flüchtlingsfamilien, weiß, wo sie herkommen und welche besonderen medizinischen Probleme es gibt. Die Unterstützung verteilt Boris zwar unentgeltlich, aber nicht ohne Kontrolle. 27 Leute, so behauptet ein weißhaariger Patriarch, alles seine Familie, schlafen hier in zwei Zimmern. Boris will sie sehen, erkundigt sich geradezu penetrant, wo die Leute sind. Mit übertriebenen Flüchtlingszahlen will er sich nicht linken lassen.

Er schaut nach, ob noch genug Medikamente da sind, versorgt neu angekommene Flüchtlinge im Notfall auch schon mal mit Matratzen, die er dem UNHCR abgehandelt hat, und paßt auf, daß die Medikamente, die er verteilt, nicht auf dem Schwarzmarkt landen.

Hilfe für die Kinderklinik in Grosny

Außer der Betreuung der Flüchtlingslager hat Cap Anamur zwei Projekte in Tschetschenien, die in größerem Umpfang unterstützt werden. Eine Kinderpoliklinik in Grosny und ein Krankenhaus in Samaschki. Die Kinderklinik liegt am Rande des zerstörten Zentrums von Grosny, im Erdgeschoß eines Plattenbaus. Auf dem Gang drängeln sich Mütter mit ihren Kindern, die hier ambulant behandelt werden. Keine schweren Kriegsverletzungen, aber die schlechten Lebensbedingungen fordern gerade auch bei den Kindern ihren Tribut. Daß die Poliklinik überhaupt schon wieder arbeitet, ist dem engagierten Team von ÄrztInnen und PflegerInnen zu verdanken, die vor Wochen angefangen haben, zuerst zwei Räume wieder instand zu setzen, und sich mittlerweile durchs gesamte Erdgeschoß vorgearbeitet haben.

Daß diese hochmotivierten Leute aber nicht mit leeren Händen dastehen, haben sie nicht zuletzt Boris zu verdanken. Angefangen von einem kleinem Generator, der einige Räume mit Strom versorgt, über Verbandszeug und eine Grundausstattung mit Medikamenten – Boris hat alles rangeschafft. Die Chefärztin strahlt über beide Backen, als er ihr die Liste des neu eingetroffenen Transports zeigt und sie ihre aktuellen Wünsche ankreuzen kann.

Selbst einer der offiziellen Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) setzt seine größten Hoffnungen in Boris. Die frühere stationäre Kinderklinik von Grosny soll wieder in Betrieb genommen werden. Im Moment haust dort noch die russische Armee, doch das Gebäude soll intakt sein. Wenn Boris seine Auftraggeber von Cap Anamur zu einer Zusage bewegen kann, für die erste Notausstattung der Klinik zu sorgen, hofft die OSZE die Räumung des Hauses schneller durchsetzen zu können. Eigentlich ist das nicht ihre Aufgabe. Die fünf OSZE- Leute moderieren derzeit die Friedensverhandlungen und sollen die Wahlen im November vorbereiten. Wenn es geht, wollen sie aber auch für die Leute direkt etwas tun – das Team ist ein Glücksfall für das zerstörte Land.

Wirklich stolz ist Boris auf sein Projekt in Samaschki. Das kleine Krankenhaus ist in einer Gemeinschaftsarbeit der Bewohner Samaschkis wieder aufgebaut worden. Im Dorf wurde Geld gesammelt, um einen Techniker einstellen zu können, der die schlimmsten Kriegsschäden beseitigte. Heute ist von den Zerstörungen kaum noch etwas zu sehen. 50 Patienten werden jetzt hier stationär versorgt, selbst schwere Verbrennungen werden behandelt. Davon gibt es gerade in Samaschki mehr als anderswo. Der Ort im Westen Tschetscheniens, direkt am Fuße des hohen Kaukasus, war Schauplatz des schlimmsten Massakers, das die russische Armee im tschetschenien Krieges verübte. In der zweiten Aprilwoche besetzten Soldaten die von den Rebellen längst verlassene Kleinstadt. In einem selbst im Verhältnis zur Bombardierung Grosnys beispiellosen Terrorakt, wurde fast jedes dritte Haus in Brand geschossen, zogen Soldaten mit Flammenwerfern durch die Straßen und fackelten wahllos die Menschen ab.

Von den Vorteilen der Nationalen Volksarmee

Trotzdem sind die übriggebliebenen Bewohner durch das Massaker nicht völlig mutlos geworden, wie das gemeinschaftliche Engagement für das Krankenhaus zeigt. Für Samaschki hat Boris denn auch das Prachtstück des Hilfstransports geordert. Einen großen Generator, mit dem das gesamte Gebäude und ein kleines Labor mit Strom versorgt werden kann. Das Problem ist: Wie kommt der Generator nach Samaschki?

Zwischen dem Cap-Anamur- Basislager in Slipzowskaja und Samaschki liegt ein großer Kontrollpunkt der Russen. Jeder, der von Inguschien aus in den Süden Tschetscheniens will muß hier vorbei. Boris ist mindestens dreimal in der Woche hier unterwegs. Eingegrabene Panzer, getarnte Maschinengewehrnester und etliche Meter Stacheldrahtverhau machen den Check Point zu einem unüberwindlichen Hindernis. Tja, grinst Boris, „da müssen wir mit dem Generator eben durch“. Seit zwei Tagen arbeitet er schon daran. Bei jedem Abstecher nach Samaschki plaudert er mit den Posten, holt ganz nebenbei eine Dose Asperin oder eine andere Kleinigkeit aus seiner Umhängetasche und bringt sich so in gute Erinnerung. „Hoffentlich wechseln die jetzt nicht gleich wieder die Leute aus“, ist seine größte Sorge. In zwei Tagen will er den Transport riskieren. Bis dahin, so glaubt er, nehmen ihm die Soldaten den Generator als Teil eines humanitären Programms ab. Was ihn heute am meisten wundert, ist, daß er selbst mal bei der Armee und damit auf der anderen Seite war. Nach drei Monaten Tschetschenien kann er sich nicht mehr vorstellen, noch einmal ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Trotzdem, die NVA-Zeit war auch aus tschetschenischer Sicht nützlich: „Ich bekomme wenigstens mit, wenn die ihre Kalaschnikow entsichern.“

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