■ Scheibengericht: Arunda
Musika Alpina I & II (Pro Vita Alpina, Klostergasse 6, A-6020 Innsbruck)
Die Weltmusikszene leidet an akuter Weitsichtigkeit. Exotik ist gut, Jodeln wird belächelt – was wiederum kurzsichtig ist. Die alpenländische Klangwelt ist nämlich gerade so aufregend wie jede andere Musikkultur auf dem Globus. Vor allem auf Graswurzelniveau waren dort bis vor wenigen Jahren noch Traditionen lebendig – und manche sind es bis heute –, die es nicht nötig hatten, sich für die Touristen zu prostituieren, weil sie ihre Funktion im Alltag der Leute, im Rhythmus der Tage und bei den Bräuchen des Jahres bewahrt hatten. Da diese musikalische Basiskultur dem Vor-Radio-Zeitalter entstammte, scherte sie sich einen Dreck um die Reinheit der Stimmung im Kammertonsystem, sondern benutzte den überlieferten Liedkanon als direktes Ausdrucksmedium der Gefühle. Parallelen springen ins Auge. Der einsame „Field Holler“ des schwarzen Feldarbeiters im amerikanischen Süden findet seine Entsprechung im „Felsheuler“ des Viehknechts in den Alpen, wie auch die rhythmischen „Worksongs“ der Baumwollfelder in Mississippi oder Alabama den Gemeinschaftsgesängen der Reispflückerinnen der norditalienischen Ebenen ähnlich sind. Wenn diese jungen Mädchen während der Arbeit, bei der sie oft monatelang mehrere Stunden am Tag in gebückter Haltung im Wasser standen, ihre Lieder anstimmten, geschah das mit einer solchen Wucht, daß einem ihr Gesang heute noch durch Mark und Bein geht. Für ein derartiges „Geschrei“ hatte der Fremdenverkehr keine Verwendung. Schuf er sich halt seine eigene Folklore.
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