„Arisierungs“-Mahnmal: Engagiert für Aufarbeitung

Nach sieben Jahren Recherche wird in Bremen nun das Mahnmal realisiert, das an die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung zur NS-Zeit erinnert.

Verbrechen benennen: Der Entwurf für das Mahnmal unterhalb der Bremer K+N-Zentrale Bild: Evin Oettingshausen

Von HENNING BLEYL

taz Info, 18.08.22 | Vor sieben Jahren waren in der taz die ersten Texte über einen Logistikriesen zu lesen, der unbeschwert Geburtstag feiern wollte: Mitten auf dem Bremer Marktplatz, mit Festzelt und einem Truck, dessen Inneres voll Stolz und Nostalgie die Firmengeschichte präsentierte.

Schließlich war Kühne+Nagel, der weltweit drittgrößte Logistikkonzern, 1890 in Bremen gegründet worden. Kleine Anfänge, große Erfolge, dazwischen ehrliche Arbeit und harte Zeiten im Krieg – dieser Erzählung applaudierte auch die bremische Politprominenz.

Noch immer ist Kühne+Nagel einer der wichtigen Arbeitgeber der Stadt, und der in der Schweiz lebende Mehrheitseigner Klaus-Michael Kühne erklärte anlässlich des Jubiläums, Bremen mit einem Neubau des Stammsitzes beglücken zu wollen.

Schwerpunkt Bremer Mahnmal zur „Arisierung“ und ausführliche Chronologie unter taz.de/mahnmal

In den Fußstapfen der Wehrmacht

Störenfried im Gratulantenchor war die kleine Bremer Lokalredaktion der taz. Sie fragte nach den Aktivitäten der Firma in der Zeit des Nationalsozialismus, die im firmeneigenen History-Truck ausgespart waren. Und erhielt als Antwort: „Dieser Zeitperiode mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“

So ging es los. Denn diese Antwort war komplett inakzeptabel. Kühne+Nagel (K+N) transportierte den Besitz Zehntausender deportierter Familien aus vielen Ländern Europas zur „Verwertung“ ins „Reich“.

In den Fußstapfen der Wehrmacht wurde K+N zum internationalen Konzern. Das (und einiges mehr) ist die Wahrheit, die das Jubiläum nicht trüben sollte.

Sorgfältig umschiffte Geschichtslücken

Sieben Jahre und siebzig Texte später ist es Zeit, Dank zu sagen. Dank an die taz-Community, die nicht nur ein entscheidender Resonanzraum war, um politische Wirkung zu entfalten. Sondern auch ein großer Aktivposten, als es darum ging, an Geld zu kommen.

Das brauchten wir, um mehr Aufmerksamkeit auf die sorgfältig umschifften Geschichtslücken zu lenken. Mehr Aufmerksamkeit, als wir allein durch Artikel und taz-Salons generieren konnten. Zum Mittel der weiteren Aufmerksamkeitsgenese wurde das Mahnmalprojekt.

Die Gelegenheit war gegeben: Kühne brauchte öffentliche Flächen für seinen Neubau des Stammsitzes. Was lag näher, als ebenfalls ein Kaufgebot abzugeben? Für nur vier Quadratmeter. Aber das zum doppelten Preis, den Kühne pro Quadratmeter zahlen sollte.

Das Mahnmal als dynamisches Vehikel für den Inhalt

Möglich war das durch ein Crowdfunding, bei dem schnell 27.003 Euro zusammenkamen. Von Stund an mussten sich die städtischen Gremien, mussten sich Bürgerschaft, Baudeputation und Haushaltsausschuss mit der Frage befassen: Was ist das für ein Kaufangebot der taz, was wollen die und warum?

Das Mahnmal als dynamisches Vehikel für den Inhalt: Das funktionierte auch in der Breite. Die Kampagne „4 qm Wahrheit“ ermöglichte Beteiligung.

Sie machte das Thema bekannt, fast viral, und führte dazu, dass die symbolisch angelegte Aktion eine Realisierungschance bekam: Der Investor konnte zwar das Grundstück kaufen, doch die Stadt beschloss ebenfalls, das Mahnmal zu bauen. Das Thema war angekommen.

Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung

Schon zuvor hatte die taz einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben: Wie kann die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung visualisiert werden, wie die Verdrängung dieses Geschäfts, die Verschleierung und Diffusion von Verantwortlichkeit?

Bekannte Künstler:innen beteiligten sich, Schulklassen und Privatpersonen. Der Wettbewerb löste familiäre Nachforschungen aus – denn auch das Thema war gewachsen. Wir fixierten uns keineswegs auf den renitenten Firmenpatriarchen, sondern fragten: Wer hat all die Dinge, die K+N aus den besetzten Ländern herankarrte, günstig erworben oder ersteigert?

So landet man potenziell in der eigenen Familienbiografie. Logistikfirmen, der Staat und Privatspenden sollen den von einer Fachjury mit Beteiligung der Bremer Jüdischen Gemeinde ausgewählten Mahnmalentwurf von Evin Oettingshausen daher gemeinsam finanzieren.

Dieses Jahr noch soll gebaut werden

Durch ein zweites Funding sind nun insgesamt 61.671,86 Euro als privater Anteil zusammengekommen – auch dafür noch mal ein dickes Dankeschön, an Sie, an Euch.

Über die Klippen, Wendungen und Dynamiken der letzten sieben Jahre ließe sich noch viel erzählen – aber jetzt gibt es ein Ergebnis: Der Bremer Senat hat den Bau final beschlossen. Für dieses Jahr noch.

Es sei denn, der Kapitalismus führt zu weiteren Hindernissen. Damit ist jetzt nicht der Kapitalismus in Gestalt eines einzelnen, einschlägig interessierten Kapitalisten gemeint – sondern dessen aktuelle Dysfunktionalitäten: Lieferengpässe, Fachkräftemangel, überlastete Bauwirtschaft. In zahlreichen Köpfen ist das Mahnmal längst entstanden. Materialisieren wird es sich auch.

Henning Bleyl, 53, war von 2001 bis 2016 Kulturredakteur der taz mit Sitz in Bremen. 2015 initiierte er das Bremer „Arisierungs“-Mahnmal, um dessen Umsetzung er sich auch nach dem Ausscheiden aus der taz kümmert.