Ein profilierter Grüner und brillanter Redner

NACHRUF Für die Stasi war er ein ungepflegter Grauhaariger. In Sachsen-Anhalt fädelte Hans-Jochen Tschiche später die erste rot-grüne Regierung mit PDS-Unterstützung ein. Am Donnerstag ist er gestorben

BERLIN taz | „Herr Tschiche, helfen Sie uns!“, flehte der SED-Fürst des Bezirks Magdeburg im Herbst 1989. Und was antwortete Hans-Jochen Tschiche, Bürgerrechtler und Leiter der evangelischen Akademie in Magdeburg? „Wir wollen Ihr Handeln kritisch begleiten.“ Tschiche flötete später immer besonders sanft, wenn er diese Anekdote zum Besten gab – und lachte anschließend über so viel Blödheit. Da präsentierte die SED die Macht auf dem Tablett und die Oppostition greift nicht zu. „Runder-Tisch-Komplex“ nannte das Tschiche.

Zur Macht griff er erst fünf Jahre später. Tschiche, seit 1990 Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Grüne im Landtag Sachsen-Anhalts, fädelte 1994 mit Reinhard Höppner das „Magdeburger Modell“ ein – eine Minderheitsregierung von SPD und Grüne unter Tolerierung der PDS.

Dass man einmal selbst regieren könnte, schien vor dem Herbst 1989 so abwegig, dass man so etwas nur als absurdes Theater inszenieren konnte. So geschehen im Sommer 1989 in Tschiches Pfarrhaus in den Nähe von Magdeburg. Da war Tschiche, Jahrgang 1929, schon längst einer der führenden Oppositionellen.

In der Rückschau wirkt es wie ein Wunder, dass so einer die DDR überstand. Stasi-Spitzel, die Familie in Sippenhaft, Verleumdung und der Druck von der Kirchenleitung, die Tschiche gern in das letzte Kaff versetzt hätte – andere zerbrachen. Und Tschiche? Die Bilder von Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, der Theologin Dorothee Sölle und Robert Jungk, einem der Vorreiter der Umweltbewegung, hingen in seinem Arbeitszimmer. Das Wort Unerschrockenheit wäre passend. „Ein ungepflegter Grauhaariger mit dicker Brille las Texte“, notierte ein Spitzel.

Tschiche, der Bäckerssohn, lachte über das Piefige der DDR. „Der Osten ist einfach deutscher und antiwestlicher“, stellte er fest. Weggegangen ist er trotzdem nicht. Er wurde einer der profiliertesten Grünen im Osten und einer der brillantesten Parlamentsredner. Das „Magdeburger Modell“ brachte den Grünen dennoch kein Glück. 1998 flogen sie aus dem Landtag.

Tschiche engagierte sich ab 1999 im Verein „Miteinander“ gegen Rechtsextremismus. 2012 kritisierte er die Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten. „Ohne Skrupel“ reise der auf dem Ticket des Bürgerrechtlers, dabei sei er Teil der konservativen westlichen Gesellschaft.

Als 2012 zwei ehemalige Sexualstraftäter in die Altmark zogen und es Proteste gab, die von Rechten befeuert wurden, bot Tschiche den Männern Rückhalt. „Für die bin ich so etwas wie ein Vater geworden“, resümierte er 2013. Am Donnerstag ist Hans-Jochen Tschiche im Alter von 85 Jahren in Magdeburg gestorben.

THOMAS GERLACH