Fließende Kartografie

BIBLIOPHIL Drei junge Syrer wollen mit „Fehras Publishing Practices“ in Berlin ein ambitioniertes Publikations-Projekt umsetzen. Auftakt ist eine Veröffentlichung über im syrischen Bürgerkrieg angeblich geraubte Bücher

Erst dieses Jahr gegründet, versteht sich „Fehras Publishing Practices“ nicht als herkömmlicher Verlag. Kenan Darwich, Omar Nicolas und Sami Rustom geht es vielmehr um experimentelle Formen des Publizierens, die sich nicht auf das geschriebene Wort beschränken, sondern etwa auch Audioveröffentlichungen, aber auch die Untersuchung der Geschichte und Gegenwart des Verlagswesens in der arabischen Welt des östlichen Mittelmeerraumes und Nordafrikas miteinbeziehen – so wie bei ihrer ersten geplanten Veröffentlichung, die sie am Samstag vorstellen: eine Auflistung der rund 10.000 Buchtitel, die sich in der Privatbibliothek des verstorbenen Schriftstellers Abdalrachman Munif in Damaskus befinden. Die Bücher und die vom Autor für sie gewählte Ordnungsstruktur lässt tiefe Einsichten in das Leben und Denken des weltbekannten Autoren zu.

■ Fehras Publishing Practices: 27. 6., 19 Uhr, Am Flutgraben 3, 12435 Berlin

VON THOMAS VORREYER

Wie kann man etwas, das verschwunden ist, wieder erreichen und sichtbar machen? In welche Beziehungen das Publizieren zu Ausstellungen oder Performances setzen? Wie welche Quellen wann und wo einbeziehen? Und was bedeutet es, wenn eine ganze Bibliothek in Brand gesetzt wurde, und gleichzeitig groß über den Diebstahl einiger weniger Bücher berichtet wird?

Kenan Darwich, Omar Nicolas und Sami Rustom dirigieren angeregt ein Orchester kluger Fragen vor sich her. Möglicher Titel des Konzerts: „Publizieren zur Zeit“. Aufführungsort: ihr Büro in der Kunstfabrik des Flutgraben e.V.. Während der zahlreichen Nachtschichten der Drei wummern hier die Bässe von Arena, Club der Visionäre und Chalet herüber. „Fehras Publishing Practices“ heißt ihr gemeinsames Projekt. Aktuell ist es mehr noch ein Konzept denn eine Entität, doch schon jetzt verschränken sich die unterschiedlichen individuellen Betätigungsfelder des Trios.

Alle drei stammen aus Syrien. Kenan Darwich studierte Kommunikationsdesign an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, wo er heute lehrt. Während eines Workshops in Damaskus lernt er Omar Nicolas kennen, der später für seinen Master ebenfalls an die Muthesius geht. Anfang 2014 liest Nicolas, nebenbei auch als Künstler und Kurator aktiv, in der -taz- über Sami Rustom, welcher gerade ein über das Goethe-Institut zustande gekommenes Praktikum absolviert, und nimmt Kontakt zu dem jungen Journalisten auf. Dieser wiederum bleibt schließlich auch in Berlin, bestärkt von seiner Familie, die er eigentlich nicht in Syrien zurücklassen wollte.

Rustom forscht schon lange zu arabischen Verlagen – eine wesentliche Grundlage für die erste Arbeit von Fehras, die man nun in Auszügen vorstellen will: Im März diesen Jahres berichten mehrere überregionale Medien von einem Diebstahl aus der privaten Bibliothek von Abdalrachman Munif in Damaskus. Munif, 2004 verstorben, war einer der bedeutendsten modernen arabischen Schriftsteller („Die Salzstädte“). In seiner Bibliothek hat er über 10.000 Bücher zusammengetragen.

Für Darwich, Nicolas und Rustom besonders interessant: der Kontext der Berichterstattung. Kurz zuvor war die Al-Saeh Bibliothek in Tripoli von Islamisten in Brand gesetzt worden, noch immer tobt der syrische Bürgerkrieg. Was sind dagegen ein paar verschwundene Bücher? Über einen Journalisten kontaktieren sie Munifs Frau, Souad Qawadiri. Ein Fotograf darf die Regale für sie ablichten.

Die Fotos offenbaren Überraschendes, so Nicolas: „Wir vermuten, dass es keinen großen Diebstahl in der Bibliothek gab – wenn überhaupt.“ Frau Qawadiri wollte sich wahrscheinlich nur von der großen Last befreien, sich um die vielen Bücher kümmern zu müssen. Doch das Augenmerk der drei jungen Syrer gilt ohnehin mehr der besonderen Sortierung der tausenden von Büchern, welche sie mittels der Fotos aus der Bibliothek in einer Inventur erfassen wollen. „Es ist wie ein Fluss“, beschreibt Darwich Munifs Ordnungsstruktur. Von einem Ort über verschiedene Themen fließe sie zum nächsten. Die Bibliothek lege Munifs Referenzen offen. Sein bewegter Lebenslauf zwischen Bagdad, Kairo, Paris und Damaskus spiegelt sich darin ebenso wie die zahllosen politischen Umbrüche in den Ländern, in denen staatliche Institutionen plötzlich private Verlage ablösen.

Wir vermuten, dass es keinen großen Diebstahl in der Bibliothek gab – wenn überhaupt

Dabei sind Bücher im arabischen Raum, wo der Straßenverkauf traditionell eine große Rolle spielt, ohnehin Treibgut der Politik. Darwich: „Nach dem Bürgerkrieg im Libanon haben die Beiruter auf den Straßen von Damaskus, wohin die libanesischen Verkäufer gezogen waren, nach alten Büchern gesucht.“ Doch nun herrscht auch in Syrien Krieg. Ein Krieg, den die drei bislang bewusst in ihrer bisherigen Arbeit ausgeklammert haben. Bislang, denn, so Darwich: „Dieses Projekt erlaubt uns, den Krieg doch zu thematisieren, ohne ihn zu dokumentieren oder auf heutige Ereignisse zu reagieren. Der Verlag findet einen Zugang zum Heute – ohne unmittelbar über das Heute zu sprechen.“

Das generelle Interesse der Fehras-Macher gilt dabei immer dem Zustand des Übergangs, in transition. Nicht von ungefähr reden sie auch von Publikationspraxen statt von einem Verlag. Das Munif-Projekt ist der Auftakt der „Series of disappearances“. Zwei weitere Reihen sind den Veränderungen von Begriffen und kultureller Sprache sowie Audioveröffentlichungen jeglicher Art gewidmet. Eine „Atlas“ genannte visuelle Studie über den kulturellen Umgang mit Literatur bildet schließlich die vierte Säule. Dabei müssen am Ende keine Bücher stehen, so Darwich, „auch Symposien, Ausstellungen oder Performances sind als Publikationen möglich.“ Aktuell sucht man in Deutschland und im arabischen Raum nach Förderern.

Zunächst steht aber ihre erste Veröffentlichung an: „Durch unsere Datenliste zur Sammlung Munifs können wir die gesamte Entwicklung der modernen arabischen Welt nachvollziehen“, sagt Rustom. Sollten es ihnen gelingen, ihre zahlreichen weiteren Ideen umzusetzen, könnte ihnen eine Art Update von Munifs Bibliothek gelingen: eine fließende, weil vielförmige Kartografie von Moderne und Postmoderne der arabischen Welt.