Der Sachkundige

ERSATZ Wohin, wenn etwas kaputtgeht? In Berlin gibt es dafür seit fast vierzig Jahren den Tausendteilemann

Eine um die andere Lampe packt Kieling aus. Die Kundin wird nervös. Ihr Auto stehe im Halteverbot

VON CHRISTINE LUZ
(TEXT) UND DAGMAR MORATH (FOTO)

Bei Hausnummer 79 in der Bundesallee in Berlin-Friedenau geht es eine steile Rampe hinunter, am Ende ist ein Laden: „Mr. 1000 Teile“ steht über dem Eingang. Wer durch die schmale Tür tritt, dem wird der Weg von deckenhohen Regalen versperrt. Von einigen hängen Staubsaugerschläuche, die sich wie Fangarme herunterschlängeln, dazu Seile und Draht, Reifen und Kabel, Bänder und Binder – ein Dschungel im Souterrain. Zu den langen Sachen kommen die kurzen, die dicken, die verbogenen, die, die Rost angesetzt haben, und die, die glänzen. Mister-tausend-Teile? Besser noch: Mister-eine-Million.

Roland Kieling heißt der Mann. Er steht hinter der Ladentheke, kurze, weiße Haare, rote Pullover, verschmitztes Lachen. Der Mann ist glücklich zwischen verstaubten Leuchtstoffröhren, Fernbedienungen und Kühlschrankgriffen, zwischen ausgebauten Telefongehäusen, Leuchtdioden und all dem Zivilisationskram von gestern.

Der 68-Jährige gilt vielen seiner Kunden als Zauberer. Zu ihm kommen Menschen, die einen Staubsauger 40 Jahre benutzten und eines Tages feststellen: Er ist kaputt.

In einer Nische steht ein Fernseher, RTL läuft. Das Telefon klingelt. „Mr. 1000 Teile, Kieling, hallo.“ Er lauscht, dann verschwindet er in den Tiefen seines 145 Quadratmeter großen Geschäfts, geht durch die Gänge, sucht, findet. „Ich mache das aus dem Bauch heraus“, sagt er. Das Ordnungssystem? Er hat es im Kopf.

Schrilles Läuten, zweimal, Kundschaft. Die Frau, die eintritt, wartet auf ihren CD-Spieler. Schon vor Monaten brachte sie ihn. „Er ist jetzt fertig“, sagt Kieling. Der zuständige Handwerker sei im Krankenhaus gewesen, entschuldigt er die lange Wartezeit. Die Rechnung? Geht diesmal aufs Haus. Der 1000-Teile-Mann trägt der Kundin das Gerät die Treppe des Ladens hinauf. „Ja, ich habe den schönsten Job der Welt“, sagt er zurück hinter der Theke.

Früher war Roland Kieling Industriekaufmann in einer Abteilung für Frauen-Oberbekleidung. „Es war damals schwer, eine Ausbildung zu bekommen, sonst blieb nur ein Job auf dem Bau oder in einer Brauerei.“ Später war er Staubsauger-Vertreter, ging von Haustür zu Haustür. Sein größtes Kapital: sein Mundwerk. Als er genug davon hatte, bewarb er sich für die Elektroabteilung eines Kaufhauses. In seiner Probezeit verkaufte er „richtig viel“ und durfte bleiben.

Aber Kieling belässt es nicht dabei, Kaffeemaschinen und Bügeleisen zu verhökern. Er wird zum Ansprechmann für Leute mit kaputten Dingen, berät, ordert Ersatzteile. Die Geschäftsleitung mahnt, er solle verkaufen nicht helfen, und Kieling beginnt zu rechnen: Er kommt auf Millionen von Geräten, die in Berliner Haushalten irgendwann ihren Dienst quittieren. Er sagt: „Warum nicht mein eigenes Ersatzteillager aufmachen?“

Das ist 39 Jahre her. Zweimal ist Kieling mit all seinen Kabeln, Staubsaugerbeuteln und Backblechen umgezogen. Inzwischen hat er sich mit einem Elektro-Service zusammengetan. Er verkauft und berät, andere reparieren. Seine Kunden sind zum großen Teil mit ihm gealtert. Doch gerade in diesen Zeiten macht er das Geschäft seines Lebens, wie er versichert – mit Glühbirnen.

Seit September 2012 dürfen sie nicht mehr hergestellt werden. Beim 1000-Teile-Mann lagern sie in allen Größen, Wattstärken und Formen. „Neulich wurde wieder ein Geheimlager in Westdeutschland entdeckt“, erzählt er verschwörerisch. Es kommt vor, dass Kunden mit neuen Energiesparlampen seinen Laden betreten und ihn bepackt mit alten Leuchten wieder verlassen.

Durchdringendes Läuten, wieder die Tür, tatsächlich: eine Kundin auf Glühbirnen-Suche. „In Klar oder Matt? Dicke Fassung? Kleine Form?“ Kieling eilt davon, stöbert, kramt, kehrt mit staubigen Schachteln zurück. Stimmt die Lichtfarbe, gefällt die Rundung? Eine um die andere Lampe packt Kieling aus. Die Kundin wird nervös. Ihr Auto stehe im Halteverbot. Er übergeht das, seinen Laden verlässt niemand, ohne nicht eine Anekdote gehört zu haben.

Zwischen Treppe und Verkaufstresen hängt seine „Wall of Fame“. Neben der goldenen Meier-Statue, die er bekam, pinnen an der Wand Fotos von Wim Wenders, Peter Lustig, Sepp Maier und anderen Prominenten. Aus den unterschiedlichsten Gründen waren sie bei ihm im Laden. Beppo Pohlmann, der einst von den langen Kreuzberger Nächten sang, kreuzt immer mal wieder bei ihm auf. Neulich erst sei eine Kundin gekommen, um ein Foto mit dem „Ersatzteile-Clooney“ zu machen, wie sie ihn nannte. Er strahlt, als er es erzählt.

In den Urlaub fährt Kieling nie. „Was bringt es mir, wenn ich den Eiffelturm gesehen habe?“ Kinder hat er nicht, „keine Zeit dafür“. Sein Lebensinhalt lagert in staubbedeckten Kartons, stapelt in Regalen, speist sich aus den langen Gesprächen mit Ratsuchenden.

Was, wenn etwas unwiderruflich kaputtgeht, für das es keinen Ersatz gibt? Das Leben

Vor neun Jahren hätte er das alles fast verloren. Ein kleiner Unfall im Laden – er stieß sich den Zeh. Deswegen gleich zum Arzt rennen? Dafür war er nicht der Typ. Kieling ging erst, als es fast zu spät war. Die Mediziner diagnostizierten Diabetes. Die Durchblutung seines Fußes war gestört, Nervenstränge bereits abgestorben. Der Zeh war nicht mehr zu retten. Die Ärzte wollten ihm den kompletten Fuß amputieren. Der Mann, der alles wieder ganz machen kann, drohte selbst zu zerbrechen.

Sein ganzes Leben hat Kieling in Berlin verbracht. Er kam 1946 zur Welt, sein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg seinen Fuß verloren, eine Erfrierung. Die Geschichte schien sich zu wiederholen.

Als kleiner Bub hatte er zwischen den Ruinen des zerbombten Nachbarhauses gespielt. Immer, wenn die Eltern nicht aufpassten. Er wuchs auf mit Verlust und Zerstörung, vielleicht rührt daher der Wunsch, die Einzelteile der Welt in seinem Laden zusammenzuhalten.

Der 1000-Teile-Mann kämpft. Heute hat er noch immer beide Füße, aber an einem nur noch vier Zehen. Das sieht er pragmatisch: „Spart Zeit beim Duschen.“ Doch es war nicht bei den Zehen geblieben. Ein paar Wochen vor Weihnachten 2012 entdeckten Ärzte bei ihm Krebs. Sie entfernten ihm die Prostata. Heiligabend war er wieder zu Hause, kuriert, aber ramponiert.

Kieling weiß, wo er Ersatzteile aller Art findet, wen er anrufen muss, wie lange es dauert. Aber was, wenn etwas unwiderruflich kaputtgeht, für das es keinen Ersatz gibt? Das Leben.