Europa – geht’s noch?

Verarmung im Inneren, mörderische Abschottung nach außen: das Bündnis „Europa. Anders. Machen.“ organisiert Protest gegen das Versagen der europäischen Regierungen

■ Theresa Kalmer (24) ist Sprecherin des Bündnisses „Europa. Anders. Machen.“ und Bundessprecherin der Grünen Jugend. Sie studiert Philosophie und Politikwissenschaft in Halle (Saale). Ihre Themen sind neben Europa die Öko- und Queerpolitik. Außerdem lädt sie CSU-PolitikerInnen zum Kiffen vor dem Gesundheitsministerium ein und arbeitet an einem Musikalbum.

INTERVIEW SYBILLE BIERMANN

Menschenwürde, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – auf diese Pfeiler stellt sich das Selbstbild der europäischen Idee. Ein Zerrbild, das die Schmerzgrenze seiner Hybris längst erreicht hat: Verelendung nach innen, eine mörderische Abschottung nach außen, und im Bundestag liegt die drastischste Verschärfung des Asylgesetzes seit den 90er Jahren zum Abschluss bereit.

Am Samstag, dem „Weltflüchtlingstag“ und Auftakt der vom Weltsozialforum ausgerufenen „Griechenland-Solidaritätswoche“, wird in Berlin daher von verschiedenen Seiten auf die Straße gerufen. Einem Aufruf des Bündnisses „Europa. Anders. Machen. – Demokratisch, solidarisch, grenzenlos“ hat sich eine vielfältige und lange Liste linker Gruppen, Politikerinnen, Kulturschaffender, Journalistinnen, Aktivistinnen und Einzelpersonen angeschlossen.

Theresa Kalmer (24) ist Sprecherin des Bündnisses und Bundessprecherin der Grünen Jugend. Mit dem Aufruf, erzählt sie, wolle man ein möglichst breites Spektrum an Menschen ansprechen, die auch die Realität in den Solidaritätsbewegungen widerspiegeln. Es seien eben nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“, die sich bei den Themen Austerität und Flucht solidarisch zeigen würden.

taz: Frau Kalmer, wo liegen die Zusammenhänge zwischen Europas Verelendung im Inneren, Beispiel Griechenland, und seiner Abschottung nach außen, sprich Frontex?

Theresa Kalmer: Die momentane Verarmung innerhalb Europas bedeutet ein Problem für die europäische Idee, also Sicherung von Frieden, gemeinsamen Wohlstand zu generieren und vor allen Dingen Grenzen niederzureißen. Aus diesen Gründen ist die Europäische Union entstanden. Wenn man sich die Politik der letzten Jahre ansieht, widerspricht sie dieser Idee enorm. Da findet eine Entsolidarisierung und eine Rückkehr zu nationalistischer Politik statt. Aus deutscher Sicht zum Beispiel werden Entscheidungen auf dem Rücken ärmerer europäischer Staaten getroffen. Nach außen hin hat der Begriff „Festung Europa“ seinen Namen tatsächlich verdient. Nicht zuletzt haben wir einen Anstieg rechtspopulistischer Bewegungen, die sich klar gegen die europäische Idee stellen. Wenn sich das weiter so entwickelt, dann gute Nacht.

Von wem sprechen wir hier wenn Europa kritisiert wird?

Wir kritisieren vor allem Regierungen, zum Beispiel die Antwort auf die Mittelmeertoten, wo man sich statt für Seenotrettung dafür entschieden hat, Schlepperbote zu zerstören und die Grenzen noch höher zu ziehen. Wenn man mal auf lokaler Ebene schaut, dann gibt es da sehr viele Bewegungen, die sich grenzübergreifend gegen eine solche Politik stellen.

Inwiefern spielen auch Bilder des vermeintlich „Anderen“ eine Rolle? Also „Wirtschaftsflüchtlinge“ auf der einen Seite und „griechische Schmarotzer“ auf der anderen?

Die Politik, die gerade gemacht wird, funktioniert nur mit solchen Bildern, deshalb geht die Demo auch an der Zentrale der Bild-Zeitung vorbei. Da wird rassistische Hetze betrieben, dass einem der Mund offen stehen bleibt. Das ist purer Populismus ohne Kontext. Zum Beispiel wird so getan, als würde das Geld für Griechenland direkt aus unseren Sozialkassen abgezogen. So wird jegliche Solidarität verhindert, und auf dieser Basis wird dann nationalistische Politik betrieben.

Gleichzeitig bilden sich neue Solidaritätsstrukturen, wie in Griechenland und Spanien, die ja auch Eintritt in die Regierungen fanden.

Wie nachhaltig das ist, wird sich zeigen, aber es ist erst mal ein Riesenerfolg, dass krisengebeutelte Länder wie Spanien und Griechenland eine linke Antwort auf die Situation gefunden haben. Diese Stoßrichtung gibt es auch in anderen Ländern. Hierzulande zum Beispiel mit Pro-Flüchtlingsbewegungen und Tausenden, die gegen Pegida et cetera auf die Straße gegangen sind. Die Abschottungs- und Austeritätspolitik wird von großen Teilen der Bevölkerung ablehnt.

Derzeit werden in Deutschland Abschiebungen blockiert, Unterkünfte organisiert und laut einer ARD-Umfrage sprechen sich 50 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür aus, mehr Asylbewerber aufzunehmen. Wer hinkt hier wem hinterher?Die Bundesregierung schläft enorm, wenn es um die Aufnahme geflüchteter Menschen geht. Die Zahl der Asylsuchenden steigt und lokale Strukturen sind dafür nicht ausgelegt. Anstatt zu handeln, verschärft die Bundesregierung lieber das Asylrecht. Ein so reiches Land wie Deutschland muss aber in einer europäischen und globalen Krisensituation Verantwortung übernehmen. Die Bundesregierung hinkt großen Teilen der Bevölkerung hinterher, die sich aktiv für bessere Zustände einsetzen.