„Die Idee von Rock ’n’ Roll ist doch sehr spießig geworden“

DIE BEZIEHUNGSBAND Françoise Cactus und Brezel Göring sind seit 22 Jahren ein Paar und genauso lange Stereo Total, Berlins charmante Botschafter einer polyglotten Popmusik, die auch mal eckig sein darf und allzu große Perfektion lieber scheut. Ein Gespräch über Kreuzberg, Musik aus Containern und den zweifelhaften Spirit von Rock ’n’ Roll

■ Sie: Françoise Cactus wird 1964 als Françoise Van Hove in Villeneuve-l’Archevêque im Burgund geboren. 1986 kommt sie nach Westberlin, wird Layouterin in der taz, wo sie bis Mitte der neunziger Jahre arbeitet, und wird mit der multinationalen Chanson-Punkband Lolitas zur Lokalheldin. Neben der Musik schreibt Cactus Bücher und Hörspiele in deutscher Sprache, malt und stellt Objekte her. Mit der lebensgroßen Strickpuppe Wollita löst sie 2004 einen Medienskandal aus.

■ Er: Brezel Göring wird 1967 als Hartmut Richard Friedrich Ziegler geboren, wächst in Kassel auf und gründet dort verschiedene Bands. Mit dem Experimental-Projekt Sigmund Freud Experience gelangt er zu Kultstatus, bevor er 1988 nach Westberlin zieht. Göring spielt unter anderem zusammen mit Neoangin (der Band von Jim Avignon), Kommando Sonne-nmilch, Oberkreuzberger Nasenflötenorchester, Klaus Beyer und den Ärzten. Er komponiert Musik für Film, Theater und Videospiele, produziert, betreibt ein Label und hat auch schon ein Buch geschrieben, allerdings nicht auf Französisch.

■ Sie und Er: Im Winter 1992/93 lernen sich Cactus und Göring kennen und gründen wenig später Stereo Total. Die Band hat bislang 13 Alben veröffentlicht, nun erscheint mit „Yéyé Existentialiste“ (Blow Up/Cargo Records) eine Art Werkschau: mit Hits wie „Dactylo Rock“, „Schön von hinten“, „Wir tanzen im 4-Eck“ oder „Liebe zu dritt“ (hier in der französischen Version), aber auch vielen Raritäten, die nicht mehr zu kaufen sind. Am 3. Juli um 20 Uhr treten Stereo Total auf beim Festival „Discover Football“ im Kreuzberger Willy-Kressmann-Stadion. (to)

INTERVIEW THOMAS WINKLER
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Frau Cactus, Herr Göring, wie gut können Sie sich noch an das Jahr 1993 erinnern?

Françoise Cactus: Da haben wir angefangen, zusammen Musik zu machen, oder?

Brezel Göring: Da haben wir uns kennengelernt.

FC: Wir haben uns kennengelernt in der Adalbertstraße. Es gab nicht mehr die Mauer, aber trotzdem: Der Junge wohnte auf der Ostseite der Adalbertstraße und ich auf der Westseite.

Sie führen also eigentlich eine Ost-West-Beziehung.

BG: Ich komme ja eigentlich aus Westdeutschland …

FC: …und ich eher aus dem Osten von Frankreich. Egal. Da haben wir uns jedenfalls immer mal gesehen auf der Adalbertstraße, so beim Einkaufen. Irgendwann haben wir angefangen, miteinander zu reden. Da stellte sich raus, das ist der Junge von Sigmund Freud Experience.

Der auch damals nicht wahnsinnig bekannten Band von Brezel.

FC: Ja, die waren ziemlich Underground, aber ich kannte sie. Ich hatte sogar zwei Platten von Sigmund Freud Experience. Die sind inzwischen leider total ramponiert, weil irgendein Idiot sie an die Heizung angelehnt hatte.

BG: Ja, aber das hat der Musik nicht geschadet.

FC: Ich fand die Musik gut. Und der Junge hat mir auch gefallen.

BG: Schön, dass du immer von dem Jungen redest.

FC: Dann haben wir gleich unser erstes Stück aufgenommen. Auf einer Kassette. Das war ein erotisches Küchenrezept und 15 Minuten lang. So etwas haben wir seitdem nie wieder gemacht, unsere Songs sind ja eher kurz.

Warum ist das nicht auf der jetzt erscheinenden CD „Yéyé Existentialiste“, die ja eine Art Werkschau ist?

FC: Wir haben die Kassette verloren, wir wissen nicht, wo sie ist.

22 Jahre später wohnen Sie zwei Straßen weiter immer noch in Kreuzberg. Wer hat sich in der Zeit stärker verändert? Sie oder Berlin?

FC: Berlin.

BG: Bei uns hat es seit diesem 15-Minuten-Stück einen ganz kleinen Schritt nach vorne gegeben, während sich die Welt um uns herum total verändert hat.

FC: Ja, wir haben uns gar nicht so sehr verändert, aber wir waren immer mal wieder in und dann wieder out. Aber mir ist total egal, ob wir modern sind oder unmodern. Wir machen einfach die Musik, die uns gefällt. Und das können wir immer noch am besten in Berlin.

BG: Berlin war immer ein Fluchtpunkt. Das hat uns ja auch angezogen. Immer wenn ich zurückkomme, merke ich, das Leben hier ist einfacher und schöner. Das hat früher schon die Schwulen angezogen, es gab die ganzen Bundeswehrflüchtlinge …

Sind Sie auch abgehauen vor der Bundeswehr?

BG: Nein, ich hab mich mit vorgetäuschter Geisteskrankheit aus der Affäre gezogen und bin dann nach Berlin gegangen.

FC: Und dann richtig wahnsinnig geworden.

Finden Sie sich noch wieder in dieser Stadt?

FC: Wir sind schon Berliner. Im Ausland werden wir wie eine Berliner Erscheinung aufgefasst und auch so präsentiert.

BG: Aber ob wir noch repräsentativ sind für die Stadt? Einerseits waren wir noch nie repräsentativ für die ganze Stadt. Wir waren immer Minderheit. Aber jetzt hat sich auch Kreuzberg verändert. Da hinten war früher alles grün (zeigt aus dem Fenster), da stehen jetzt Hochhäuser und in denen wohnen Leute, die eine Garage unterm Haus haben. Die sind jetzt auch hier in der Mehrheit.

In zumindest einem Aspekt sind Stereo Total unglaublich repräsentativ für Berlin. Mit Liedern in Englisch, Japanisch, Türkisch, Spanisch, natürlich Französisch und Deutsch haben Sie das neue, internationale Berlin, von dem jetzt alle so schwärmen, doch eigentlich vorweggenommen.

FC: Ja, stimmt. Aber der Grund, warum wir angefangen haben, in verschiedenen Sprachen zu singen, war der, dass wir auch im Ausland auftreten wollten. Deutsche Bands, die deutsch singen, die fahren in die Schweiz und nach Österreich, und wenn sie Glück haben, werden sie mal nach Dänemark eingeladen. Aber wir wollten reisen. Als Erstes wollten wir nach Japan gehen, also haben wir ein Lied auf Japanisch gemacht, damit man uns da einlädt.

Und, hat es geklappt?

FC: Ja, das hat geklappt. Dann haben wir ein Lied auf Italienisch gemacht.

Welche Sprache lässt sich denn am besten singen?

FC: Ich finde alle Sprachen schön. Französisch? Finde ich super. Italienisch? Große Klasse. Spanisch? Wir haben eine ganze Platte komplett auf Spanisch gemacht. Ich finde auch, Deutsch ist sehr schön als gesungene Sprache, obwohl alle sagen, das klingt furchtbar. Aber was sich schwer singen lässt, ist Isländisch. Am meisten Spaß macht es mir, in Japanisch zu singen. Wenn man Japanisch singt, dann klingt das sofort wie ein Traum und ein bisschen kindisch.

In welcher Sprache fühlen Sie sich am heimischsten?

FC: Französisch natürlich.

Die meisten Songs und alle Ihre Bücher sind aber in Deutsch geschrieben.

FC: Ja, weil ich hier bin. Ich schreibe Deutsch, weil ich wissen will, wie meine Kumpels meine Bücher finden. Aber in meinem Kopf gibt es schon eine Art Konfusion.

Dass Sie die Sprachen, in der Sie Ihre Songs schreiben, nicht perfekt beherrschen, gehört das zum Konzept von Stereo Total, das auf Dilettantismus baut?

FC: Wir passen jedenfalls gut auf, dass das alles nicht zu gut klingt. Wir haben kein Interesse an Perfektion, an Supersound. Wir sind total altmodisch in unserer Art, Musik zu produzieren. Wir schmeißen lieber was hin, als ewig am Computer dran rumzufummeln. Wir verwenden sowieso meistens keine Computer bei Aufnahmen.

BG: Zum Vorwurf Dilettantismus sage ich: Wen will der Spezialist fragen, wenn er nicht weiterweiß? Dann muss er den Amateur fragen.

Das hat dann die Genrebezeichnung Trash bekommen. Das ist nicht schön, wenn die eigene Musik als Müll bezeichnet wird.

FC: Es gibt ekelhaften Trash und es gibt schönen Trash. Wir machen schönen Trash. Aber wir machen keinen Krach. Mir ist wichtig, dass mein Gesang eine Melodie hat.

Kann es guten und schlechten Müll geben?

BG: Das ist ja das Schöne am Trash, dass es so subjektiv ist. Für jeden ist Müll etwas anderes. Ich finde ja auch, dass wir Unterhaltungsmusik machen. Aber eben zu anderen Bedingungen als denen des Mehrheitsgeschmacks. Trash, das ist keine Abwertung für mich, sondern eine Auszeichnung. Außerdem entstand unsere Musik anfangs ja auch als Reaktion auf die Wegwerfgesellschaft. Ich war fasziniert in der Nachwendezeit von den Containern, die plötzlich überall standen und in denen entsorgt wurde, was die Ostler weggeworfen haben, weil sie sich vermeintlich Besseres aus dem Westen besorgt hatten. Die waren randvoll mit interessanten Sachen.

FC: Wir haben viel Equipment aus dem Osten. Ganz tolle Mikrofone zum Beispiel.

BG: Ich hatte DDR-Gitarren, andere Instrumente. Das flog einem so zu. Wir haben sicherlich keine Ostalgie betrieben, aber wir haben aus dem Sperrmüll schon einen großen Teil unserer Inspiration bezogen. Wir haben uns ja auch immer begeistert für abseitige Musik. Wir haben uns inspirieren lassen vom Müllhaufen der Geschichte.

Hätte es Stereo Total also ohne den Mauerfall nicht gegeben?

BG: Ja, kann sein. Das war generell eine so hysterische Zeit. Wie ein großes grünes Licht mit wahnsinnig vielen Möglichkeiten. Die totale Anarchie. Aber sich im Müllhaufen zu bedienen, das ist nicht nur künstlerisches Konzept, sondern eine grundsätzliche Lebenseinstellung: Ich wüsste nicht mal, wo ich hingehen müsste, wenn ich mir ein Sofa kaufen wollte. Meine Möbel kamen immer aus dem Sperrmüll.

Aber kann Dilettantismus als Konzept funktionieren? Lernt man mit der Zeit nicht, sein Instrument zu gut zu spielen? Wie bleibt man so lange Dilettant?

BG: Das weiß ich nicht. Aber tatsächlich: Eine Zeit lang habe ich versucht, mir anzueignen, wie man aufnimmt, habe mich in die Studiotechnik vertieft. Und dann festgestellt, das geht in die falsche Richtung.

Was heißt falsche Richtung? Es klang zu gut?

BG: Exakt. Da kam Musik raus, die ich mir selber nicht mehr anhören würde. Ich war zu kompetent geworden.

Warum werden Sie an der Gitarre nicht kompetenter?

BG: Ich versuche, möglichst einfache Sachen zu spielen. Da gibt es dann natürlich die Schwierigkeit, dass man sich leicht wiederholt. Aber das Problem, an der Gitarre zu gut zu werden, das ist bei mir nicht so gegeben. Ich werde einfach nicht besser.

Ein Gitarrist ohne Talent zur Gitarre?

FC: Ach, das stimmt doch gar nicht. Der Junge ist total talentiert.

BG: Ich bin eigentlich transgender: ein Nichtmusiker, der in einen Musikerkörper geboren wurde. Ich trage zwar die Berufsbezeichnung Musiker, aber ich denke nicht wie ein Musiker.

Sie sind jetzt mehr als 22 Jahre ein Paar und eine Rock-’n’-Roll-Band. Ist das überhaupt noch Rock ’n’ Roll? Wie läuft das mit den Groupies?

BG: Das muss ich nicht beantworten.

FC: Okay, 22 Jahre ist eine lange Zeit. Fast solange wie die Rolling Stones. Aber das ist eine männliche Vorstellung von Rock ’n’ Roll: Jungs klettern in einen Bus, um Bräute aufzutreiben. Aber wir sind doch gar keine Rock-’n’-Roll-Band. Wir nehmen grundsätzlich keine Drogen auf Tournee!

BG: Diese Idee von Rock ’n’ Roll, von Befreiung, die ist mittlerweile doch sehr spießig geworden.

Ist das nicht anstrengend, mit dem Lebensgefährten, der Lebensgefährtin auch noch in einer Band zu spielen?

FC: Finde ich nicht. Ich kenne so viele Bands, in denen sich die Leute hassen. Das ist anstrengend. Ich habe von einer Band gehört, die großen Wert darauf legt, dass sie bei den Flügen nicht nebeneinandersitzen. Und selbst, wenn sie sich nicht hassen, dann fragen sie sich während der Tour die ganze Zeit, wann sie wieder nach Hause dürfen, um ihre Freundin zu sehen. Voilà, das kann uns nicht passieren.

Was würde passieren, wenn Sie sich trennen? Würde sich auch die Band auflösen?

BG: Ja.

„Es gibt ekelhaften Trash und es gibt schönen Trash. Wir machen schönen Trash“

FC: Auflösen.

Und umgekehrt? Wenn sich die Band auflöst, müssten Sie sich dann auch trennen?

FC: Nein. Aber warum sollten wir aufhören, Musik zu machen? Wenn es sein müsste, was weiß ich … Beine ab und ich kann kein Schlagzeug mehr spielen.

Was ist in diesen 22 Jahren einfacher geworden, das Bandsein oder das Paarsein?

FC: Beides ist nicht so schwer. Aber wenn wir uns streiten, dann nur wegen der Musik. Wenn wir eine neue Platte machen und jeder ist davon überzeugt, dass seine Idee die beste ist, und dann jeder stur ist, dann streiten wir uns. Brezel sagt: Das Stück ist grauenhaft, das will ich nicht auf der Platte haben. Ich sage: Das ist mein Lieblingsstück.

BG: Musikalisch war es nicht Liebe auf den ersten Blick. Wir kamen aus verschiedenen Welten – und das hat sich auch nicht geändert.

Stereo Total entsteht erst durch die Reibung?

FC: Bei den meisten Bands ist es doch so: Die kommen zusammen, weil sie alle dieselbe Art von Musik lieben. Wir aber haben einen total verschiedenen Background. Ich habe Chanson und Punk gemacht, Brezel eher so elektronische Musik, experimentelle Sachen. Das schmeißen wir zusammen und daraus entsteht dann Stereo Total: Zwischen sehr musikalisch und sehr unmusikalisch, sehr melodiös und sehr minimalistisch.

Eine Quizfrage: Was verbindet Mamas & Papas, Ike & Tina Turner, Sonny & Cher, Fleetwood Mac, White Stripes, Abba und Sonic Youth?

BG: Alles Bands mit Paaren.

Und alles Paare, die sich getrennt haben. Mir fallen jetzt nur Johnny Cash und June Carter ein, die bis an ihr Lebensende zusammengeblieben sind und zusammen Musik gemacht haben.

FC: Falsch, es gibt auch Les Rita Mitsouko. Die sind nur getrennt, weil der Mann gestorben ist.

BG: Cramps.

FC: Und The Cramps. Auch nur getrennt, weil der Mann gestorben ist.

Gut, aber die Scheidungsrate ist vergleichsweise hoch.

BG: Stimmt.

Was macht Ihnen Hoffnung, dass Sie das nicht ereilt?

BG: Das weiß ich nicht.

FC: Solange wir uns leiden können, können wir uns leiden. Und wenn nicht mehr, dann nicht mehr. Was soll’s?

Welchem Paar aus der Popgeschichte fühlen Sie sich verwandt?

FC: Vielleicht Les Rita Mitsouko. Auf jeden Fall nicht Cher und Dingsbums. Der kleine Kerl hat sie geprügelt. Wie hieß der? Sonny! Was für ein Arschloch.

Noch eine Frage an Françoise Cactus: Erinnern Sie sich an Ihre Zeit als Layouterin in der taz mit Wehmut oder mit Grauen?

FC: Ich hatte eine ganz gute Zeit in der taz, besonders am Anfang, als alles noch so durchgedreht war. Aber ich glaube, ich habe mir dort die Gesundheit etwas ruiniert. Ich habe ungefähr 20 Liter Kaffee getrunken am Tag. Das war ganz schön hart. Und ich träume noch manchmal von der taz. In habe einen Traum, in dem sprechen die Leute auf den Fotos, mit denen ich die Seite layoute, mit mir. Das ist nicht so schön.